Über die Beziehung unter Geschwistern

Geschwister gehören zusammen – oder nicht? Was macht ihre Beziehung aus? ¹⁾
Inspirationsthema mit Dr. Inés Brock-Harder
Sie lieben und hassen sich, sind Verbündete, Vorbilder, Rivalen – mit Geschwistern lernen wir fürs Leben. Dr. Inés Brock-Harder erklärt, wie sich Geschwister verhalten, wie sie uns prägen und unsere Biografie bereichern.
„Wie ein Kind sich entwickelt, ist stark von seiner Geschwistergruppe geprägt“, sagt Dr. Inés Brock-Harder. Erstgeborenen, „Sandwich-Kindern“ und Nachgeborenen generell ganz konkrete Eigenschaften zuzuschreiben, gehört aber ins Reich der Mythen und hat keine wissenschaftliche Grundlage. Welche Rolle Kinder in einer Familie einnehmen, ist letztlich so individuell und vielfältig, wie es Familien- und Geschwisterkonstellationen gibt. Es kommt auf das Zuhause an, in dem sie groß werden.
Die Unterschiede zählen
Obwohl sich Geschwister zu 50 Prozent genetisch gleichen, geht es in der Familie unbewusst mehr um die Unterschiede als um die Gemeinsamkeiten. Jedes Kind strebt ganz natürlich nach einem Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Geschwistergruppe, nach seiner Nische, die es mit seinen individuellen Neigungen und Fähigkeiten besetzt. Tatsächlich nehmen Eltern die Unterschiede zwischen ihren Kindern weit mehr wahr als deren Gemeinsamkeiten. So ist die Familie mit mehreren Kindern praktisch als Lernort angelegt, der es Kindern ermöglicht, ihre Rolle und ihren persönlichen Weg im Leben zu finden und sich damit durchzusetzen. Damit sind aber auch Rivalität und Konkurrenz unter Geschwistern vorprogrammiert.
Unbewusste Rollensuche
Inés Brock-Harder nennt als Beispiel vier Schwestern mit geringem Altersabstand auf der Suche nach ihrem Alleinstellungsmerkmal in der Familie: „Schon die dritte Schwester muss sich etwas einfallen lassen, um sich von ihren älteren Schwestern zu unterscheiden, von denen die eine vielleicht die Zielstrebige ist, die zweite die Verspieltere.“
Die dritte Schwester kann zum Beispiel mit Aggressionen auf die nachkommende vierte Schwester reagieren, weil sie sich nicht gesehen fühlt. Entsprechend besetzt sie eine negative Nische unter den Schwestern oder, ganz im Gegenteil: Es entspricht vielleicht eher ihren Neigungen, sich als Vermittlerin besonders sozial zu zeigen, wenn es in der Geschwistergruppe Streit gibt. Diese dynamische Entwicklung läuft vollkommen unbewusst ab.
Als Einzelkind aufwachsen
Während sich Geschwisterkinder zu Hause früh in Sozialkompetenz und Empathie üben, holen Einzelkinder dies in Kita und Schule nach. Sie müssen dafür nicht um die Aufmerksamkeit der Eltern buhlen und sind – mit den Eltern als alleinigen Ansprechpartnern – in ihrer sprachlichen und kognitiven Entwicklung den anderen oft voraus. „Das trifft auch auf Erstgeborene zu, die erst im Schulalter Geschwister bekommen“, sagt Inés Brock-Harder. „In der Pubertät relativiert sich dann, ob man Einzel- oder Geschwisterkind ist. Unterschiede verlieren sich.“
Rivalität gehört dazu
Das Spannungsverhältnis zwischen Rivalität und Liebe, Intimität und Konkurrenz macht Geschwisterbeziehungen aus. Manche Eltern sind besorgt, wenn ihre Kinder mitunter sogar handgreiflich streiten oder sich Gemeinheiten an den Kopf werfen. „Ein gewisses Maß an Streit unter Geschwistern ist völlig normal. Eltern sollten sich da nicht zu schnell Sorgen machen und können das in der Regel einfach laufen lassen. Eingreifen sollten sie nur in Ausnahmefällen. Etwa, wenn ein Kind viel schwächer ist als das andere und es zu ernsthaften Verletzungen kommen kann.“ Oder wenn bei kleinen Kindern eine Schiedsrichterfunktion gefragt ist, beispielsweise um mit den Kindern auszuhandeln, wer ein Spielzeug wann und wie lange bekommt. Die meisten Konflikte drehen sich um Alltägliches. „In einer Stunde streiten sich Geschwister im Schnitt viermal.“ Sind sie sich im Jugendalter gar nicht grün, gehen sie erst mal getrennte Lebenswege. „Als Erwachsene wissen Geschwister aber meist wieder, was sie aneinander haben“, sagt Inés Brock-Harder.
Unterstützung in Krisenzeiten
So sehr sich Geschwister in die Haare kriegen können, so sehr können sie auch ein Herz und eine Seele sein. Geschwister unterstützen sich in Krisen untereinander, zum Beispiel in Trennungssituationen, wenn die Eltern nicht verfügbar oder mit den eigenen Problemen beschäftigt sind.
Geschlechterunterschiede
„Es gibt sogar den Befund, dass kleine Jungs die Trennung ihrer Eltern besser verkraften, wenn sie eine Schwester haben“, sagt die Expertin. Und es zeigen sich in der Forschung weitere geschlechtsbezogene Erkenntnisse: Schwestern sprechen häufiger miteinander, teilen aber auch schnell mal verbal aus, während Jungs eher raufen. Im Erwachsenenalter halten meist Schwestern die Beziehung zu ihrem Bruder am Laufen. Sie sind der soziale Kitt in der Geschwisterbeziehung, der unter Brüdern oft fehlt: Sie haben wesentlich weniger Kontakt untereinander als Schwestern.
Vorteilhafter Altersabstand
Wie eng Geschwister miteinander sind, hängt auch von deren Altersunterschied ab. Ist er sehr gering und beträgt nur etwa ein Jahr, spricht man auch von „Pseudozwillingen“, die sich in ihrer Entwicklung aneinander angleichen. Viele Eltern fragen sich, welcher Altersabstand ideal wäre. „Es gibt den anthropologisch natürlichen Altersabstand von zweieinhalb bis drei Jahren“, erläutert Dr. Inés Brock-Harder. Dieser ist bei Völkern zu beobachten, die keine Verhütungsmittel anwenden und lange stillen, wobei Letzteres wiederum verhütend wirken kann. „Drei Jahre sind aber auch entwicklungspsychologisch ein guter Altersabstand zwischen Geschwistern, weil das erstgeborene Kind dann schon ein eigenes Ich entwickelt hat.“ Es konnte schon eigene Lebenserfahrung zum Beispiel in der Kita sammeln. „Ein dreijähriges Kind muss nicht mehr komplett mit dem Säugling konkurrieren. Es kann selbst zur Toilette gehen und laufen und hat manchmal schon ein Verständnis dafür entwickelt, dass es seine eigenen Bedürfnisse auch mal aufschieben muss.“
Gratwanderung Gerechtigkeit
Größere Kinder, die hin und wieder auf kleinere Geschwister aufpassen müssen, erfahren dies als ungerecht, da sie sich vielleicht lieber mit Freunden treffen würden. „Solche Erfahrungen kann man Kindern nicht ersparen“, sagt Inés Brock-Harder. „Sie entwickeln dadurch letztlich auch mehr Sozialkompetenz.“ Typisch für Geschwister: Sie vergleichen, was sie von ihren Eltern bekommen. „Das fängt beim Pudding in der Kindheit an und hört mit der Erbschaft auf.“ Dass es nicht 100-prozentig gerecht zugehen kann, müssen Kinder lernen: Wenn das eine ein Geschenk bekommt, das die Eltern mühevoll besorgt oder selbst gemacht haben, und das andere ein Präsent, das teuer war. Kinder haben verschiedene Bedürfnisse, Eigenschaften und Lebenswege.
Dr. Inés Brock-Harder
Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie e. V. (BKJ) © Bilderlotte Eva Kohlweyer
Ihre eigenen vier inzwischen erwachsenen Söhne bekam Dr. Inés Brock-Harder aus Halle/Saale im geringen Abstand in jungen Jahren. „Ich hatte Erziehungswissenschaften studiert und fühlte mich trotzdem manchmal überfordert. Wie das so ist, wenn man eine Wissenschaftsneigung hat, schaut man nicht nur in die Elternratgeber, sondern auch in die Fachliteratur“, erzählt sie. Doch die war bis dahin ziemlich stiefmütterlich mit der Geschwisterforschung umgegangen. So fand Inés Brock-Harder mit diesem Forschungszweig ihr Lebensthema und promovierte schließlich zum Thema Mehrkindfamilien. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ist auch im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbands kinderreicher Familien und hilft in ihrer Praxis erwachsenen Geschwistern, ihre Konflikte untereinander zu bewältigen.
Sollte man Zwillinge in Kita und Schule trennen?
„Zwillinge haben schon im Uterus eine gemeinsame Geschichte und kennen sich so gut wie kein anderer Mensch jemanden kennen kann. Eine Trennung in Kita und Schule empfinden Zwillinge eher als Verlust. Die gegenseitige Unterstützung ist vor allem bei Eineiigen ein wesentliches Kriterium in ihrem Zwillingsleben. Für ihre Entwicklung bringt eine Trennung eher Nachteile und birgt sogar ein höheres Risiko für psychische Auffälligkeiten.“
Dr. Inés Brock-Harder
Tipp: Nicht verzweifeln, wenn es zwischen den Kindern einer Patchworkfamilie hakt: Fachleute gehen davon aus, dass sie fünf Jahre braucht, bis sie sich eingespielt hat.
