So geht der Umgang mit Hochsensibilität

Hochsensibilität hat viele Gesichter: Von der intensiven Wahrnehmung von Reizen bis zum sechsten Sinn. ¹⁾
Inspirationstalk mit Expertin Nina Brach
Hochsensible gehen mit geschärften Sinnen durchs Leben. Das ist anstrengend, doch auch bereichernd. Die Systemische Coachin Nina Brach erklärt, wie Hochsensible ihre Mitte wahren. Hochsensibel zu sein gilt als Persönlichkeitseigenschaft. Es gibt keine Diagnose wie zum Beispiel für ADHS, die offiziell als Störung gilt und im ärztlichen Diagnosekatalog enthalten ist. Hochsensibilität bedarf keiner Medikation.
Wie schwer es dennoch sein kann, im Alltag als besonders empfindsamer Mensch klarzukommen, weiß Nina Brach aus eigener Erfahrung. Mit Mitte 20 entdeckte sie, dass ihr Anderssein einen Namen hat. Heute gibt sie als Systemische Coachin hochsensiblen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe. Viele haben das Gefühl, falsch zu ticken – so hat Nina Brach es selbst lange empfunden. Zum Beispiel dachte sie, sie müsse sich wie alle anderen Studierenden in der Bibliothek doch stundenlang auf eine Aufgabe konzentrieren können.
Sie konnte es nicht und zweifelte an sich. Bis ihr klar wurde: Es liegt an der Struktur des hochsensiblen Gehirns. „Ich nehme schnell ganz viel wahr und wäge es gedanklich ab. Alles, was an Reizen um mich da ist, wird reingespült, überschwemmt mich und erschwert die Konzentration.“
„Auf einmal machte alles Sinn“
Mit dem Buchtitel „Sind Sie hochsensibel?“, der ihr zufällig in die Hände fiel, änderte sich Nina Brachs Leben. Die Autorin des Buches ist die Pionierin der Hochsensiblen-Forschung, die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron. „Ich war so glücklich, dass alles auf einmal Sinn machte“, erzählt Nina Brach. In ihrer Forschung identifizierte Elaine Aron etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung als hochsensibel – Frauen und Männer gleichermaßen. Das dürfte in etwa auch auf die hiesige Bevölkerung zutreffen. Elaine Aron entwickelte zudem einen Selbsttest zur Identifikation von Hochsensibilität. Menschen mit dieser Wesenseigenschaft nehmen Reize wie Geräusche, Licht, Gerüche oder Berührungen intensiver wahr und verarbeiten sie tiefer.
Für Nina Brach und viele andere ist es hilfreich, den Begriff Hochsensibilität zu kennen: „Um etwas zu haben, auf das man sich fokussieren kann, wenn man merkt: Da ist ein Thema, das mir immer wieder auf die Füße fällt – und mit dem ich am Ende Frieden schließen kann.“
Strategien für einen entspannten Alltag
Nina Brach konnte sich ihr Leben fortan „zurechtruckeln“, wie sie es formuliert, sodass es für sie passte: Ohrstöpsel in lauter Umgebung nutzen, sich nicht mehr in Menschenmengen aufhalten oder lernen, sich im Studium überschaubare Lernhappen vorzunehmen und zu einer anderen Aufgabe zu switchen, wenn die Konzentration schwindet.
In sinnlicher und emotionaler Dauerbrandung zu stehen, bringt aber auch mit sich, dass Hochsensible ihre eigenen Bedürfnisse vergessen. „Die Antennen sind überall, nur nicht bei einem selbst“, erklärt Nina Brach und empfiehlt, regelmäßige „Check-in-Zeiten“ mit sich selbst zu machen. „Das kann um die Wechseljahre noch mal besonders wichtig sein, wenn viele Frauen das Gefühl haben, ihre Hochsensibilität äußert sich stärker“, sagt Nina Brach und rät, sich immer wieder mal kurz zurückzuziehen und zu fragen: Was brauche ich gerade, ist alles gut?
Positives sichtbar machen
Nina Brachs Fähigkeit, gewöhnliche Geräusche vor allem in der Summe bis an die Schmerzgrenze wahrzunehmen, hat auch eine positive Seite. „In klassischen Konzerten geht die Musik so tief. In solchen Momenten empfinde ich meinen Hörsinn als allergrößtes Glück.“ Nina Brach ist es wichtig, das Positive sichtbar zu machen. „Viele, die sich an mich wenden, sehen ihre Hochsensibilität in erster Linie als etwas Negatives und Belastendes.“ Beispielsweise kann es sehr anstrengend sein, immer mit anderen mitzuleiden und Empathie zu empfinden. „Dieses Mitfühlen ermöglicht es aber auch, dass ich gleich bemerke, wenn es der Kollegin nicht gut geht, und ich kann ihr als Sparringspartner zur Seite stehen“, sagt Nina Brach.
Weil sie sich sehr gut in andere hineinversetzen können und sehen, wo deren Stärken liegen, sind Hochsensible oft gute Führungspersonen. „Sie haben das große Ganze im Blick, was wirklich wichtig ist, und bringen andere Perspektiven ein.“
Familie als neue Herausforderung
Als Nina Brach Mutter wurde, begann sie sich angesichts der neuen Herausforderungen noch mal neu und intensiv mit ihrer Hochsensibilität auseinanderzusetzen. Den Begriff Hochsensibilität verwendet sie zwar meist übergreifend. Im Gegensatz zu Elaine Aron, die von „Highly Sensitive Persons“ spricht, unterscheidet Nina Brach in ihrem Buch Hochsensibilität und Hochsensitivität (siehe die Spalte rechts). „Ganz oft kommt beides im Doppelpack vor, manchmal aber auch nur eines. Ich finde die feinere Unterscheidung hilfreich, um besser herauszufinden: Wo genau möchte ich weiterkommen?“
Hochsensibilität erklären
Will man sich anderen mitteilen, dann trägt man seine Hochsensibilität besser nicht als Label vor sich her. Nina Brach empfiehlt, sich lieber auf konkrete Herausforderungen zu fokussieren und dafür Lösungen zu finden. „Etwa der Freundin, mit der Sie in einem lauten Café sitzen, sagen: Ich würde lieber ein paar Schritte draußen gehen, damit wir in Ruhe reden können. Statt: Ich bin hochsensibel, das geht hier gar nicht für mich.“ Ist in einer Partnerschaft eine Person hochsensibel, ist die Herausforderung für beide, sich gegenseitig verstehen zu lernen, Kompromisse zu finden und sich so sein zu lassen, wie man ist.
Wissenswertes
Anzeichen für Hochsensibilität
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – Hochsensible haben überdurchschnittlich geschärfte Sinne. Wie man wissenschaftlich nachweisen konnte, ist ihr Nervensystem sensibler eingestellt.
Anzeichen für Hochsensitivität
Eine außergewöhnliche Empfänglichkeit für Nuancen in sozialen Interaktionen. Ein tiefes Verständnis für die Gefühle anderer und ein hohes Maß an Empathie und Intuition. Stimmungen und Energien anderer können hochsensitive Menschen spüren und aufnehmen, quasi als sechsten Sinn.
Nina Brach, Systemische Coachin für Hochsensibilität aus Berlin
© Sonja Filitz
Sie hilft Menschen, in Alltag, Familie, Partnerschaft und Beruf besser mit ihren hochsensiblen Wesenseigenschaften umzugehen. Nina Brach weiß, was es bedeutet, einen sechsten Sinn zu haben, tief empathisch zu sein. „Ich habe mich früher unverstanden und falsch gefühlt, fast wie von einem anderen Planeten. In meinem Kopf war ein einziger Wirrwarr von Gedanken, und dieser Strom riss einfach niemals ab! Inzwischen feiere ich mein feines Gespür. Es ist wie ein Schlüssel, der mir Zugang zu so vielem verschafft, das andere nicht sehen und wahrnehmen. Der mir so vieles ermöglicht und mit dem ich anderen helfen kann. Das ist ein Geschenk!“
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