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Zu neuen Ufern

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Geht man von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund 82 Jahren in westlichen Industrienationen aus, ist die Mitte des Lebens mit 41 Jahren erreicht. ¹⁾

Inspirationstalk mit Philosophin Barbara Bleisch

Wie geht es weiter? In der Lebensmitte eine naheliegende Frage, wenn vieles schon erledigt wurde, manches aber noch offen geblieben ist. Die Antwort: Diese Zeit ist oft sehr viel besser als befürchtet und ganz anders als gedacht.

Bei manchen ist es der Blick auf die Kinder, die eben noch mit Bauklötzen spielten und jetzt schon für den Führerschein pauken. Bei anderen dieses Ziehen hier und da im Rücken, die Feststellung, dass sie schon länger im Job sind, als sie in der Schule waren, und dass der neue Chef ganz schön jung ist. Alles Indizien dafür, dass man sich gerade dort befindet, wo sich mehr als ein Drittel der Deutschen gerade aufhält: in der Mitte des Lebens. In einer jener Übergangsphasen, die einen – wie Pubertät, Rentenbeginn, Elternschaft – vor ganz schön große biografische Hausaufgaben stellen können. Denen aber ebenso enorme Entwicklungsmöglichkeiten und Selbsterfüllungs-Chancen innewohnen. 

Suchbewegungen

Es sei eine Phase, „in der viele Menschen zeitgleich in einem retrospektiven und einem prospektiven Modus leben, also in der Rückschau und mit Blick auf das, was noch kommt“, so die Philosophin Dr. Barbara Bleisch. Sie hat sich intensiv mit diesem Lebensabschnitt auseinandergesetzt und ein Buch geschrieben über die Zeit „wenn wir nicht mehr jung sind, aber noch nicht alt“ („Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre“, Carl Hanser). Als typisch bezeichnet sie dabei die „Suchbewegungen“. Man rekapituliere einerseits, was man schon erreicht hat – in Liebe, Beruf und bei manchen bei der Familiengründung. „Gleichzeitig überlegt man auf Basis dieser Bilanz, was noch kommen könnte.“ 

Es sei die Hoch-Zeit der Fragen: Habe ich erreicht, was ich mir vorgenommen habe? Macht es mich glücklich? Was ist offengeblieben? Welche Bedürfnisse will ich mir noch erfüllen? Auch mit Blick auf die Endlichkeit, die nun durchaus näher rückt? 

Ressourcenstark

Die Antworten, so Dr. Barbara Bleisch, liegen zum Teil in den besonderen Ressourcen dieser Lebensphase. „In jungen Jahren müssen wir noch so viel werden. Im Alter müssen wir zwar wenig, können aber oft auch nicht mehr so, wie wir möchten. In den mittleren Jahren können wir dagegen aus dem Vollen schöpfen und noch gestalten.“ Gut, wir haben schon einiges hinter uns. Aber gerade deshalb verfügen wir über ein erstklassiges Potenzial für alles, was es braucht, um zu neuen Horizonten aufzubrechen. Nachzuholen und zu vertiefen, was vielleicht zu kurz gekommen ist. Neu zu justieren, wie es weitergehen könnte. 

„Wir haben viele Erfahrungen gemacht. Wir sind vertrauter mit uns selbst, wissen genauer, was wir wollen, und müssen uns selbst nicht mehr so tragisch ernst nehmen“, erklärt Barbara Bleisch. Wir haben außerdem nicht mehr so viel Erledigungsdruck und können entspannter auch einfach nach Neigung gehen. „Für mich sind die mittleren Jahre die besten Jahre, die freieste Zeit des Lebens“, sagt sie deshalb. Es sei eine „Phase der Fülle“, die nun beginne. Und die berüchtigte Midlife-Crisis sei oft nichts weiter als ein Symptom dafür, dass nun alles durchaus besser werden könnte. 

Krise empfohlen

Denn: Es ist nicht einfach und durchaus krisenträchtig, noch einmal die gewohnten Gleise zu verlassen – und mit ihnen die Komfortzone. Vielleicht damit auch nahe Menschen zu brüskieren, die einen nicht mehr wiedererkennen, wenn man nun zu neuen Horizonten aufbricht – etwa eine feste Stelle kündigt, um es doch noch mit der Selbstständigkeit zu versuchen. Ein halbes Jahr auf Weltreise geht oder vielleicht sogar die lange Ehe kippt, weil man nicht mehr miteinander, sondern bloß noch nebeneinander lebt. Aber man weiß es nun: Jetzt oder nie! 

„Ich glaube, dass wir sehr oft die sogenannte Midlife-Crisis fast schon als Chiffre gebrauchen für abweichendes Verhalten. Manchmal, um es zu entschuldigen, aber meistens, um ein Verhalten bei anderen zu kritisieren, das uns lächerlich oder peinlich erscheint.“ Einfach, weil sich da ein Mensch jenseits der Erwartungen ein paar Wünsche und Bedürfnisse erfüllen will. Etwa die 45-Jährige, die nun noch einmal das studiert, was sie damals nicht studiert hat, weil ihre Eltern es als „unvernünftig“ empfanden, oder der 50-Jährige, der sein altes Leben hinter sich lässt, um die Welt zu umsegeln, oder die 54-Jährige, die die Vorortvilla verlässt, ihre Ehe auf Fernbeziehung setzt und sich in Berlin für ein Jahr eine Zweizimmerwohnung mietet, um eine alte Freundin in deren Restaurant zu unterstützen. 

Abschied von der Jugend

Denn: Es ist nicht einfach und Veränderungen hätten durchaus immer Krisen im Gepäck als eine Art produktiven Wachstumsschmerz, in dem man alte Rollen und Gewohnheiten hinter sich lässt und sich das Neue aber erst noch erobern muss. Und natürlich ist es auch schwer. Denn eines dürfe man nicht vergessen: „Lebensmitte“, das sei immer auch der finale Abschied von der Jugend. 

„Selbstverständlich ist der körperliche Zerfallsprozess, den wir jetzt zunehmend registrieren, nichts, was wir umarmen. Aber das Älterwerden bringt ja eigene Güter mit. Die Lebenserfahrung, die Klugheit, die Weisheit, die Gelassenheit.“ Das sei viel wichtiger und deutlich nachhaltiger als die äußere Hülle – und ein Verständnis dafür gelte es nun auch wieder ins Zentrum zu rücken, so Barbara Bleisch. 

Ermunterung für Spätblüher

Zum Glück kommt gerade Menschen in der Lebensmitte aktuell der Trend entgegen, dass es immer weniger Altersschubladen, dafür aber eine enorme Vielfalt von Lebensentwürfen gibt. „Ich halte es für eine große Errungenschaft, dass Menschen heute frei darin sind, auch mit 50 noch einmal neu anzufangen. Man kann tausend neue Entscheidungen treffen. Aber muss das am Ende auch nicht“, sagt Barbara Bleisch. 

Und es gibt auch eine „Bleibefreiheit“: Anstatt sich dauernd zu fragen, ob anderes anderswo nicht vielleicht besser wäre, kann man sich zugestehen und erkennen: „Ich habe das Gute schon gefunden. Mein Leben stimmt für mich.“ Am Ende, so die Philosophin, sei doch die Frage, ob man sich in seiner Lebendigkeit beschnitten fühle. „Kann ich blühen? Kann ich mich bewegen? Mich entfalten? Fühle ich mich gesehen? Bin ich in einem produktiven Austausch?“ Wenn man sich diese Fragen alle mit „Ja“ beantwortet, kann alles so bleiben, wie es ja offenbar wunderbar ist. In allen anderen Fällen ist jetzt in der Lebensmitte die perfekte Gelegenheit, noch einmal zu neuen Ufern aufzubrechen.

Wissenswertes

  • Das Bildungsniveau in der Lebensmitte ist in den vergangenen 20 Jahren gestiegen – und zwar ungleich stärker ausgeprägt bei Frauen als bei Männern.** 
  • Rund 19 Prozent aller Männer (1996 vier Prozent) und etwa 13 Prozent aller Frauen (1996 zwei Prozent) heiraten heute zwischen dem 34. und 59. Lebensjahr zum ersten Mal.** 

  • 36 % der Deutschen befinden sich in der Lebensmitte – sind also zwischen 35 und 59 Jahre alt.**

Barbara Bleisch

Potrait von Barbara Bleisch

Barbara Bleisch hat in Philosophie mit einer Arbeit zur globalen Gerechtigkeit promoviert. © Mirjam Kluka

Die Mutter zweier Teenagertöchter ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich und Co-Intendantin des Vortragsfestivals Philosophicum Lech. Und sie hat einige viel diskutierte Bücher verfasst. Etwa zur Frage „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“, übers Kinderkriegen und über Kindheit. Zuletzt hat sie sich in ihrem Buch „Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre“ (Carl Hanser) mit dieser besonderen Lebens- und Umbruchphase beschäftigt. Auch, weil sie glaubt, dass wir viel zu wenig darüber sprechen, „was wir gewinnen, wenn wir älter werden“. Und das sei eine Menge. Unter anderem auch die Freiheit von diesem „ganzen Druck des Erwachsenseins“ der jüngeren Jahre, den sie „ziemlich anstrengend“ fand. 

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*Für die Teilnahme ist die dm-App sowie ein dm-Konto erforderlich.
**Quelle: Studie des BiB Was kommt nach der Rushhour? Lebenslagen und Lebensverläufe von Frauen und Männern in der Lebensmitte im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung