Seele der Gesundheit

„Gefühle, die wir wie einen ungebetenen Gast behandeln, bleiben aus Trotz noch länger.“ ¹⁾
Inspirationsthema mit Prof. Dr. Tanja Michael
Ja, wir brauchen ausreichend Schlaf, Bewegung, eine gesunde Ernährung und gute Beziehungen. Was wir darüber oft vergessen, ist die Beziehung zu uns selbst.
Wie steht es eigentlich um unsere Seelen? Wenn man sich neueste Umfrageergebnisse ansieht, nicht gut. Jeder dritte Deutsche bezeichnet sich als psychisch krank*. Laut Robert-Koch-Institut zählen Angststörung und Depression zu den häufigsten Erkrankungen – bei Erwachsenen wie auch bei Kindern. „Psychische Störungen sind keine Erwachsenenkrankheit. Jede zweite manifestiert sich bereits vor dem 18. Lebensjahr. Deshalb ist eine frühe Prophylaxe wichtig“, sagt Prof. Dr. Tanja Michael, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes. Als Studienleiterin der GUCK-Hin-Studie, abgekürzt für Generation Ukrainekrieg Covid-19 Klimawandel, hat Tanja Michael zusammen mit ihrem Team zwischen 2022 und 2024 insgesamt 4.000 Schülerinnen und Schüler im Saarland von 10 bis 18 Jahren zu ihrer psychischen Gesundheit befragt. Als die Ergebnisse vorlagen, ging sie zuerst von einem Rechenfehler aus: Jeder zweite Jugendliche hat Angst, 40 Prozent fühlen sich niedergeschlagen, hoffnungslos oder schwermütig.
Körper und Psyche sind nur gemeinsam stark
Warum ist die Welt, wie wir sie erleben und fühlen, untrennbar mit unserem Körper verbunden? Wie funktioniert dieses Zusammenspiel von Körper und Psyche? Warum ist Stress ein Hauptauslöser? Was ist Stress überhaupt? All das könnten wir bereits in der Schule lernen. „Aber möglichst nicht von Lehrern, sondern von ausgebildetem Personal. Wichtig ist auch, dass es um die Basics geht, kein Schüler sollte sich emotional ausziehen vor der Klasse“, so Tanja Michael. „Viele Schulprojekte sind zwar gut gemeint, tun aber nicht gut. So zeigen aktuelle Studien zu Mobbing-Interventionsprogrammen, dass es Kindern, die besonders schwer gemobbt werden, im Anschluss sogar schlechter geht. Eine gute Idee wäre daher eine Online-Plattform mit Infomaterial, Selbsttest und Verweis auf psychotherapeutische Hilfe.“ Genauso wichtig wie gute Präventionsmaßnahmen für psychische Gesundheit ist die Entstigmatisierung dieser Leiden. Noch immer gibt es Vorurteile. Dabei ist wissenschaftlich längst belegt, dass es keine rein psychischen oder rein physischen Krankheiten gibt. „Die Befunde der Psychoneuroimmunologie zeigen vielmehr, was all jene, die schon immer eine ganzheitliche Medizin eingefordert haben, lange wissen: dass alle Krankheiten beides sind, seelisch und körperlich. Dass sie immer psychische, geistige und immunologische Auswirkungen haben. Dass sie folglich so ganzheitlich sind, wie sie behandelt werden sollten“, schreibt auch die Wissenschaftsjournalistin und Immunologin Christina Berndt in ihrem Buch „Die Rundum Gesund Formel“.
*AXA Mental Health Report 2023
Negative Gefühle brauchen Raum
Emotionen haben in unserer Gesellschaft noch immer keinen hohen Stellenwert, aber in uns können wir den Farben der Seele, wie Tanja Michael sie beschreibt, mehr Raum geben. Den hellen wie den dunklen. „Es ist ein Gesetz der Seele, an dem nicht zu rütteln ist: Wenn wir etwas Wertvolles verlieren, müssen wir trauern“, so die Psychotherapeutin. „Ich halte nichts davon, alles immer positiv zu sehen. Negative Gefühle lassen uns innehalten. Sie sagen uns: ‚Hoppla, das ist zu viel gerade.‘ Sie sind wichtig und gut, um seine Grenzen zu kennen, die sich im Laufe des Lebens, aber auch eines Tages, ändern. Kurz: Sie halten uns gesund.“ So ist Neid beispielsweise im besten Fall Kompass und Motor zugleich, nach seinem persönlichen „Warum“ zu suchen und etwas in seinem Leben zu ändern. „Das beste Mittel, um Neidgefühle loszulassen, ist und bleibt, den eigenen Rasen so zu pflegen, dass man gar nicht erst auf die Idee kommt, dass das Gras auf der anderen Seite des Hügels grüner sein könnte“, so Tanja Michael. Doch das setzt eine gute Beziehung zu sich selbst und seinen Bedürfnissen voraus. Und woran erkennt man eine gute Beziehung? Dass sie einem auch in schweren Zeiten Halt gibt. Die wichtigste Zutat der Selbstverbundenheit ist das Selbstmitgefühl.
Sich selbst ein Freund sein
Wenn Tanja Michael ihre Klienten darum bittet, ein Bild von sich mitzubringen, auf dem sie sich mögen, ist es oft eine Kinderfotografie. Es fällt uns leichter, uns als Kind zu umarmen und zu sagen: „Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Ich bin verletzlich, so wie es jeder ist, und so wie jedes Lebewesen verdiene auch ich Mitgefühl.“ Im Gegensatz zum Selbstwertgefühl, ist Selbstmitgefühl wertfrei. Es ist egal, ob wir schön, gebildet oder erfolgreich sind. „Auch zeigt die Forschung, dass selbstmitfühlende Menschen nicht nur weiter an sich arbeiten, sie verlieren sich auch weniger in destruktivem Selbstmitleid, sind hoffnungsvoller und dankbarer“, schreibt Tanja Michael.
Weil Verletzlichkeit menschlich ist
Es ist ein täglicher Lernprozess, immer wieder mit sich in Verbindung zu kommen. Sei es, indem man sich seine Gefühle von der Seele schreibt, malt, raus in die Natur geht oder sich einem anderen Menschen gegenüber anvertraut. „Sie können sich aber auch jeden Tag einen Timer stellen und fragen: ‚Wie geht es Dir?‘, einen Wohlfühlort in sich selbst erschaffen, an den Sie sich zurückziehen, oder einen Tresor für Ihre traurigen Gefühle, den Sie, wann immer Sie es möchten, aufsuchen und auch wieder verlassen können“, rät die Psychotherapeutin. „Je öfter Sie das tun, desto leichter fällt es Ihnen.“
Oft suchen wir den Kontakt zu uns selbst erst in Krisenzeiten, die dann zur Chance werden. Tanja Michael ist immer wieder überrascht von den Selbstheilungskräften ihrer Patienten. „Ich höre einfach meist nur zu und wiederhole. Die meisten wissen, was ihnen guttut und was sie machen müssen. Verletzlichkeit und Resilienz wechseln einander ständig ab. Das gibt auch mir immer wieder Hoffnung.“ Und es zeigt, wie viel Verbundenheit, Glück und Potenzial darin liegen, sich anderen gegenüber zu öffnen.
Tierisch gut
Prof. Dr. Tanja Michael erlebt in der Therapie immer wieder, wie Tiere Menschen, die scheinbar am Ende ihrer mentalen Kräfte sind, zurück ins Leben holen. „Die Verantwortung für ein Lebewesen verankert uns in der Welt, wenn wir ihr am liebsten den Rücken kehren würden“, schreibt die Psychotherapeutin. „Seien wir ehrlich: Die Beziehung zu vielen unserer Mitmenschen ist kompliziert. Sobald wir in die Augen unseres Katers schauen, fühlen wir nichts als reine Liebe. Vermutlich besteht genau darin die einzigartige Macht der Freundschaft zu Tieren: Ihre Zuneigung ist sicher und beständig und wir müssen – anders als bei Menschen – keine Sorge haben, von ihnen für unsere Schwächen verurteilt zu werden.“
Atmen
4 Sekunden lang einatmen, 6 Sekunden lang ausatmen verankert uns nicht nur im Hier und Jetzt, sondern beeinflusst den Puls und hilft Stress abzubauen, der mit der Hälfte aller psychischen Erkrankungen in Verbindung steht. „Geübte Atmer können sich auf Dauer von seelischen Automatismen lösen, die sie in einem Käfig aus Zukunftssorgen gefangen halten, und selbst wieder das Ruder übernehmen“, so Prof. Dr. Tanja Michael.
Erste-Hilfe-Koffer
Die drei Muskeln des Selbstmitgefühls sind Prof. Dr. Tanja Michael zufolge Achtsamkeit, Verbundenheit und Selbstfreundlichkeit. Je öfter wir sie in schwierigen Momenten benutzen, desto stärker werden sie. Und so geht’s: Wenn Dir alles zu viel wird und Du Zuspruch brauchst, suche Dir einen ruhigen Ort und atme tief ein und aus. Schließe die Augen und lege Deine Hände über Dein Herz. Sag Dir still:
„Ich leide gerade.“
„Was immer ich fühle, es ist berechtigt.“
„Jeder Mensch kennt dieses Gefühl, ich bin nicht allein damit.“
„Was kann ich tun, damit es mir besser geht?“
Es gibt mittlerweile auch Ersthelfer-Kurse für psychische Gesundheit
Infos unter: mhfa-ersthelfer.de
Prof. Dr. Tanja Michael ist Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie
„Durch unsere erstaunliche Fähigkeit zur Reflexion ist die Seele imstande, sich selbst zu verändern.“ ©
Sie leitet seit 2009 den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie die Psychotherapeutische Universitätsambulanz und das Weiterbildungsinstitut für Psychotherapie an der Universität des Saarlandes. Tanja Michael arbeitet sowohl wissenschaftlich als auch therapeutisch und konzentriert sich in ihrer Forschung insbesondere auf den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Stress, Angsterkrankungen, Depressionen und Traumafolgestörungen. Mit ihrem Sachbuch „55 Fragen an die Seele − Wie sie tickt und was ihr Halt gibt“ teilt sie ihr Wissen über die Psyche und zeigt auf, wie man gute Gewohnheiten entwickeln und sich ins seelische Gleichgewicht bringen kann.
Buch-Tipp
Weil Körper und Seele eins sind
Prof. Dr. Tanja Michael und Corinna Hartmann: 55 Fragen an die Seele: Wie sie tickt und was ihr Halt gibt. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 304 Seiten, 17 Euro
