Politische Ämter gehören zur Demokratie

„Ich wünsche mir, dass die Ausübung politischer Ämter Teil unserer gesellschaftlichen und demokratischen Kultur wird“, sagt Claudia Alfons. © David Maupilé
Interview mit Oberbürgermeisterin Claudia Alfons
Mal etwas anderes machen und die Komfortzone verlassen? Claudia Alfons macht Lust darauf.
Hohe Decken mit Stuckverzierung, Parkettboden, der unter jedem Schritt knarzt, an den Wänden zeitgenössische Malerei in Pink – die Atmosphäre ihres Büros mit einer Mischung aus Tradition und überraschender Modernität passt zu Claudia Alfons. Sie setzt sich dafür ein, dass die Politik durchlässiger wird und auch Künstler, Unternehmer und andere Berufsgruppen sich engagieren und frischen Wind in politische Ämter bringen. Ihrer Überzeugung nach sind spezielle Qualifikationen weniger entscheidend, als das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und zu zeigen, dass man es ehrlich meint und Herausforderungen gemeinsam meistern kann.
alverde: Sie leben hier am Bodensee in einer herrlichen Urlaubsregion. Nehmen Sie diese Kulisse im Alltag noch wahr?
Claudia Alfons: Ich bin hier aufgewachsen. Schon als Kind, wenn ich morgens mit dem Schulbus auf den See zufuhr, wusste ich: Das ist etwas ganz Besonderes. Und so ist es noch immer. Die Menschen hier wissen diese Gegend zu schätzen und haben ein Bewusstsein dafür, wie schützenswert das alles ist.
alverde: Was macht eine Stadt für Sie lebenswert?
Claudia Alfons: Eine Stadt wird für mich durch Vielfalt lebenswert, wenn sie unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt: bezahlbarer Wohnraum, gute Mobilität, lebendiges soziales Miteinander und ein breites kulturelles Angebot. Für mich gehört auch dazu, in der Natur sein zu können.
alverde: Für das soziale und kulturelle Miteinander ist das Engagement der Bürgerinnen und Bürger entscheidend. Gleichzeitig beobachtet man einen starken Rückzug ins Private. Wie passt das zusammen?
Claudia Alfons: Wir brauchen ein Umdenken: Wir erleben eine starke Individualisierung. Aber die Freiheiten, die wir als Individuen genießen, sind nur in einer funktionierenden Gesellschaft möglich. Darum tragen wir Verantwortung für unsere Gemeinschaft. Ich halte es für wichtig, nicht nur zu nehmen, was die Gesellschaft uns an Rechten und Möglichkeiten gibt, sondern auch einen Teil zum Funktionieren unserer Gesellschaft beizutragen.
alverde: Wie kann man Menschen für ehrenamtliches Engagement begeistern?
Claudia Alfons: Am begeisterndsten können diejenigen, die sich engagieren, erzählen, was ihr Beitrag für die Gemeinschaft bewirkt und wie viel Befriedigung er ihnen selbst bringt. Viele fühlen sich vom Thema Ehrenamt nicht angesprochen, weil das Wort etwas abgegriffen klingt und nicht emotional berührt.
Die Begeisterung, mit der die Oberbürgermeisterin von ihren Aufgaben spricht, ist spürbar. © David Maupilé
alverde: Es gibt eine große Politikverdrossenheit in Deutschland. Glauben Sie, es ist „uncool“, politisch aktiv zu werden?
Claudia Alfons: Wenn es um politische Ämter geht, ja. Es sind zwar alle für Demokratie, aber keiner will in die Politik. Für eine funktionierende Demokratie ist es jedoch unerlässlich, dass wir auch „Politik machen“, also uns einbringen und mitgestalten. Wir brauchen in der Politik künftig unbedingt auch die „coolen Kids“.
alverde: Wie blicken Sie angesichts dieser Herausforderungen in die Zukunft?
Claudia Alfons: Für mich gibt es keine Alternative zur Zuversicht. Es bewegt mich, wie viele Menschen in diesem Jahr für unsere Demokratie auf den Straßen waren. Das macht mir wie vielen anderen Mut. Aber entscheidend ist, sich im Alltag zu engagieren, sei es in der Politik oder in einem anderen gesellschaftlichen Bereich.
alverde: Hat sich das Bewusstsein dafür bei Ihnen im Laufe der Zeit entwickelt oder wollten Sie schon immer Politikerin werden?
Claudia Alfons: Ich wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, in die Politik zu gehen. Erst als ich gefragt wurde, ob ich in meiner Heimatstadt für das Oberbürgermeisteramt kandidieren wolle, habe ich mich damit beschäftigt. Jetzt mache ich die Erfahrung, dass es in der Praxis an Vorbildern und Ermutigung mangelt. Deshalb versuche ich, Menschen konkret anzusprechen. Ich wünsche mir, dass die Ausübung politischer Ämter Teil unserer gesellschaftlichen und demokratischen Kultur wird. Politik nicht als lebenslange Karriere, sondern als eine Phase, in der man sich aktiv einbringt.
alverde: Sie haben als Oberbürgermeisterin zwei Kinder bekommen. Das ist selten. Wie waren die Reaktionen darauf?
Claudia Alfons: Manche sagten, dafür sei ich nicht gewählt, oder fragten, ob ich die Wahl guten Gewissens annehmen konnte, wenn ich doch Kinder wollte, die mich von meinem Amt ablenken würden. Aber wollen wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen mit Kindern oder Kinderwunsch die Möglichkeit abspricht, öffentliche Ämter anzunehmen? Ich denke vielmehr, dass gerade diese Lebenserfahrungen eine Amtsführung bereichern. Wir alle wollen doch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die im Leben stehen und am Leben teilnehmen. Dann gehört es einfach dazu, dass man mit all den Herausforderungen, die das Leben an einen stellt, in Berührung kommt und sich ihnen auch persönlich stellt.
alverde: Ärgert es Sie, dass Frauen Fragen zur Vereinbarkeit beantworten müssen, Männer aber danach nie gefragt werden?
Claudia Alfons: Es ärgert mich, wenn man mir abspricht, wegen meiner Kinder die notwendige Ernsthaftigkeit oder das notwendige Verantwortungsgefühl mitzubringen. Dass man solche Fragen stellt, verstehe ich jedoch. Vor allem Frauen interessiert, wie das ganz praktisch organisiert ist und funktioniert, sie finden darin Inspiration und Ermutigung. Ich erfahre auch gerne, wie andere Frauen ähnliche Situationen meistern. Das ermutigt und inspiriert mich.
alverde: Sie berichten wöchentlich auf Instagram aus dem Rathaus. Wie wichtig ist Ihnen Transparenz in Ihrem Amt?
Claudia Alfons: Das ist mir ein großes Anliegen. Im Wahlkampf hatte ich intensiven Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern. Da hatte ich Raum und Zeit dafür. Nach meinem Amtsantritt – mitten in der Coronapandemie – verschwand ich von Montag bis Freitag im Büro. Ich hatte das Gefühl, ich muss zumindest in groben Zügen berichten, was ich hier mache. Ich kann nicht in die Tiefe gehen, aber einen Überblick über die Termine und Themen geben, die uns beschäftigen.
alverde: Was machen Sie, wenn Sie nach Hause kommen? Können Sie gut abschalten?
Claudia Alfons: Dank der Kinder, ja. Ich komme durch die Haustür, meine knapp Dreijährige rennt mir entgegen und ich bin sofort mittendrin. Die Kleine ist ein Jahr alt. Ich wechsle also entweder eine Windel, füttere die Kleine oder spiele mit den beiden. Das bringt mich sofort auf andere Gedanken und relativiert alles.
Über Claudia Alfons
Die promovierte Juristin ist seit 2020 parteilose Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau am Bodensee. Zuvor arbeitete sie als Rechtsanwältin, Staatsanwältin und Richterin. Sie zählt zu den zehn Prozent Frauen, die in Deutschland ein solches Amt bekleiden, und fühlt sich manchmal ein wenig wie eine Exotin. Ihre beiden Töchter, die ältere knapp drei Jahre alt, die jüngere ein Jahr, bekam sie während ihrer Amtszeit.