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Per Du mit dem Körper

Portrait von Giulia Enders

„Das Schreiben und das Ärztinsein laden sich gegenseitig auf.“ – Giulia Enders © Luise Blumstengel

Interview mit Ärztin und Autorin Giulia Enders

Giulia Enders erklärte als Medizinstudentin den „Darm mit Charme“. In ihrem neuen Buch „Organisch“ nimmt sie uns mit auf eine Entdeckungsreise durch den Körper. 

Ihre Augen sind weit geöffnet, ihre Mimik ist lebhaft, als Giulia Enders uns an diesem Interviewtag erzählt, was unser Organismus so draufhat. Sie sitzt da gemütlich im Schneidersitz auf einem kuscheligen Sessel und steckt uns an mit ihrer Begeisterung für den Körper. Bei ihr klingt es, als spreche sie von einem guten Freund. Dass das Wissen über ihn unsere Haltung zum Leben grundlegend verändern kann, glauben wir ihr aufs Wort. Oder wie geht es Ihnen? 

alverde: Nach dem Erfolg von „Darm mit Charme“ haben Sie Ihr Studium abgeschlossen, im Krankenhaus gearbeitet und sind an vielen Türen vorbeigegangen, die Ihr Bestseller öffnete. Warum? 

Giulia Enders: Der Darm ist mein Lieblingsorgan. Und ich hatte irgendwann so viel Wissen über ihn angehäuft, dass ich andere daran teilhaben lassen wollte. Als ich das Angebot zu meinem ersten Buch erhielt, war das für mich wie ein Ventil. Aber viele Angebote, die später kamen, fühlten sich an, als ob nur mein Gesicht irgendwo draufgeklatscht werden sollte. Bei solchen Entscheidungen frage ich mich grundsätzlich: Was will ich damit erreichen? Auch als ich mich plötzlich von Einladungen und Interviewanfragen überwältigt fühlte, gab diese Frage mir Orientierung. Auf „Warum soll ich jetzt noch weiter im Scheinwerferlicht meines Buches schwimmen?“ gab es keine Antwort. Aber in die Klinik gehen und mein Wissen zu nutzen, das war für mich eine Antwort. 

alverde: Sie sagen, dass Ihnen die Arbeit im Krankenhaus paradoxerweise noch mal sehr deutlich gemacht hat, welch wichtige Rolle Wissenschaftskommunikation spielt. 

Giulia Enders: Als Ärztin im Krankenhaus fehlte mir oft die Zeit, meinen Patienten viel zu erklären, obwohl ich wusste, welche Informationen ihnen helfen könnten, auch psychisch. Da ist es gut, wenn man dieses Wissen nachlesen kann: Denn zu verstehen, warum der Körper etwas macht, kann sehr erleichtern. Wer gesundheitliche Probleme hat, nimmt seinen Körper oft als Gegner wahr, der verhindert, dass man eine Verabredung wahrnimmt oder im Job funktioniert. Das ist anstrengend. Aber wer versteht, was sein Körper eigentlich wollte, fühlt sich nicht bestraft. Ich habe mal einer Patientin erklärt, warum die Immunzellen ihres Darms so übervorsichtig sind, dass sie auch guten Bakterien nicht mehr trauen. Dass er nicht gegen sie kämpft, sondern sein Verhalten beschützend gemeint ist. Sie war sehr gerührt und erleichtert und konnte ihre Situation endlich aus einer anderen Perspektive betrachten. 

alverde: Das klingt wie ein Weg zu Selbstliebe und -fürsorge. 

Giulia Enders: Unbedingt. Wenn ich lese, was meine Immunzellen den ganzen Tag über machen, dass sie jede einzelne Zelle einmal abtasten und fragen: „Alles okay?“, dann kriege ich viel mehr Bodypositivity, als wenn mir jemand sagt: „Du bist wunderschön!“ Aber Körperwissen wirkt sich nicht nur auf die Beziehung zu uns selbst, sondern auch auf den Umgang mit anderen aus. Einmal behandelte ich einen Teenager mit einer entzündlichen Darmerkrankung. Die Eltern erzählten, dass er jedes Mal launisch war, bevor sich seine Darmsymptome verschlechterten. Sie haben dann immer entsprechend geschimpft. Als sie aber den Zusammenhang verstanden, dass der Darm Gehirn und Verhalten beeinflusst, konnten sie schließlich ganz anders auf ihr Kind eingehen. Obwohl es in erster Linie biologisches Wissen ist, kann es dazu führen, dass wir netter mit uns und unseren Mitmenschen umgehen.

„Zu verstehen, warum der Körper etwas macht, kann sehr erleichtern.“

Portrait von Giulia Enders

„Wer gesundheitliche Probleme hat, nimmt seinen Körper oft als Gegner wahr.“ © Luise Blumstengel

alverde: In Ihrem neuen Buch „Organisch“ geht es nicht um den Darm, sondern ums Immunsystem, Haut, Lungen, Herz und Gehirn. Haben Patientengeschichten dazu beigetragen?  

Das Schreiben und das Ärztinsein laden sich gegenseitig auf. Ich habe Erfahrungen mit Leuten im Krankenhaus gesammelt und die hatten eben nicht nur einen Darm (lacht). Ich habe mich auch um ihr Herz oder ihre Lungen gekümmert. Dabei kamen mir viele Fragen, die miteinander verflochten sind. Kommen heute mehr Patienten, weil die Luft schlechter ist? Und hängt das mit ihren Bauchschmerzen zusammen? So entstand die Idee zu meinem neuen Buch. 

alverde: Um zu erklären, wie verschiedene Organe funktionieren, vergleichen Sie sie mit Mitgliedern Ihrer Familie. Wie sind Sie auf diese ungewöhnliche Sicht gekommen? 

Giulia Enders: Am Anfang fiel es mir schwer, über andere Organe als den Darm zu schreiben. Ich habe sogar eine Paartherapeutin gefragt, wie ich einen besseren Zugang zu ihnen bekommen könnte. Sie fragte: Erinnert dich eines dieser Organe vielleicht an jemanden, mit dem du dich verbinden kannst? Und tatsächlich, die Weichheit der Lunge erinnerte mich an meine Urgroßmutter. Danach fiel es mir plötzlich ganz leicht: Die Haut, das Berührungsorgan, über das wir mit anderen in Kontakt treten – das war meine Oma, die so begabt war, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, und die viele wundervolle Freundschaften gepflegt hat! Die Kraft der Muskeln, das hilfreiche Anpacken: ganz klar meine Mutter. Bei dieser Zuordnung waren meine Schwester und ich sofort einer Meinung. 

„Das Schreiben und das Ärztinsein laden sich gegenseitig auf.“

Portraits von Giulia Enders

„Die Andersartigkeit der Menschen ist wunderbar, wenn wir verstehen, sie gut zu nutzen.“ © Luise Blumstengel

alverde: Sie beschreiben sich und Ihre Schwester als linke und rechte Gehirnhälfte. Sie hat Ihre beiden Bücher illustriert. Welche Rolle spielt sie für Ihr Schreiben? 

Giulia Enders: Meine Schwester ist Synästhesistin. Das bedeutet, sie sieht Zahlen und Texte als Farben oder Formen. Löst ein Text bei ihr kein Bild aus, weiß ich: Da muss ich noch mal ran. Das ist für mich eine große Hilfe, weil ich das nicht kann. Wir waren schon immer in vielem das Gegenteil der anderen – sie ist eher ruhig, ich quirlig, sie kann gut mit Pflanzen und Tieren und ich mit Menschen. Diese Liste könnte ich endlos weiterführen. Was in unserer Kindheit zu Streit geführt hat, ist heute ein wertvoller Schatz. Wir telefonieren fast täglich – nicht selten eine Stunde lang. Ohne ihren Blick auf die Dinge habe ich etwas nur zur Hälfte verstanden und andersherum auch. Ich denke oft: Die Andersartigkeit der Menschen ist wunderbar, wenn wir verstehen, sie gut zu nutzen. 

Steckbrief: Blick aufs Menschliche, Giulia Enders

Die Ärztin wurde 1990 in Mannheim geboren. Schon während des Studiums begeisterte sie sich für die Wissenschaftskommunikation und gewann mit dem Vortrag „Darm mit Charme“ mehrere Science Slams. 2014 erschien das gleichnamige Buch, ein Bestseller, der leichtfüßig und lustig die Funktionsweise des Darms erklärt. Nach dem Studium widmete sich Giulia Enders der Gastroenterologie. Ihre Tätigkeit im Krankenhaus hat sie für die Arbeit an „Organisch“ nur vorübergehend unterbrochen. 

  • Bei Schreibblockaden rufe ich meine Schwester an. 

  • Lieblingsbuch: „Im Grunde gut“ von Rutger Bregman 

  • Von Oma habe ich die Neugier und das fröhliche Naturell.