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In der Nacht findet sie Inspiration für ihre Romanfiguren

Portrait von Jagoda Marinić

„Argumentieren und streiten im besten Sinne ist eine hohe Kunst der Gesprächskultur”, sagt Jagoda Marinić. © Asja Caspari

Interview mit Schriftstellerin Jagoda Marinić 

Jagoda Marinić sucht tagsüber die Begegnung und das intensive Gespräch mit anderen. Nachts ist sie im Dialog mit ihren Romanfiguren. Sie ist Schriftstellerin, Journalistin, Kolumnistin und Podcast-Host. Sie mag die Vielfalt und wünscht sich, selbst von Dingen zu lesen, auf die sie nie gekommen wäre. Sie sucht die Auseinandersetzung mit allem, was sie nicht kennt oder womit sie sich noch nicht beschäftigt hat. Auf Partys war sie früher diejenige, die nachts um zwei Uhr alle zum Philosophieren überredete. 

alverde: Sie begegnen dem Tag anders als der Nacht. Worin besteht für Sie der Unterschied? 

Jagoda Marinić: Tagsüber richtet sich meine Aufmerksamkeit nach außen. Es ist die Suche nach Begegnungen, die Zeit, neugierig zu sein und zu erforschen. Aber es lenkt mich auch vieles ab. Die Nacht blendet all das aus. Ich liebe die Konzentration und Verdichtung, die dann entsteht. Nachts ist für mich der Raum für das Kreative. 

alverde: Sind Sie also in der Nacht eine Schriftstellerin? 

Jagoda Marinić: Meine Fantasiefiguren kommen erst rausgekrochen, wenn keine realen Menschen mehr um mich sind. Wenn ich ins Nichts schaue, nehmen meine Figuren Gestalt an und ich setze sie zueinander in Beziehung. Nachts sind meine Figuren realer. Deshalb schreibe ich meine Bücher nachts. 

alverde: Sie sind auch Meinungsjournalistin und schreiben Kolumnen. Ist dafür der Tag reserviert? 

Jagoda Marinić: Ja, wenn ich tagsüber schreibe, ist der Ton ein anderer als nachts. Der Tag ist immer sortierter und die Nacht erlaubt mir eine andere Ordnung. Ich habe die Welt gern in diesen Gegensätzlichkeiten. 

alverde: Gibt es also zwei verschiedene Ichs der Jagoda Marinić? Ein Tag- und ein Nacht-Ich? 

Jagoda Marinić: Es sind mehr. Ich habe immer das Gefühl: Ein Leben reicht nicht, die vielen verschiedenen Ichs im Rahmen meiner Lebenszeit in die Welt zu bringen. Ich habe immer Angst, dass ein Ich nicht in die Welt kommen könnte. 

alverde: Welches Ich möchten Sie unbedingt noch zur Entfaltung bringen? 

Jagoda Marinić: Da kann ich mir viele vorstellen. Ich bin immer noch wie ein Teenager, der sich fragt: „Wer werde ich morgen sein?“ Ich bin Schriftstellerin, dann kam der Podcast „Freiheit Deluxe“, dessen Erfolg ich nicht kommen sah, und auch meine Sendung „Das Buch meines Lebens“ auf arte. Vor Kurzem habe ich beispielsweise angefangen zu malen. Ich kann mir genauso gut vorstellen, dass ich irgendwann im EU-Parlament sitze, um die Welt zu retten. Aber das erst später. Vielleicht beginne ich vorher zu singen. 

alverde: Überraschen Sie sich manchmal selbst? 

Jagoda Marinić: Bei der Gründung des Interkulturellen Zentrums in Heidelberg sind Dinge aus mir erwachsen, die ich nie von mir erwartet hätte. So viele Menschen hatten ihre Hoffnung in mich gesetzt, mir ihren Traum in die Hände gelegt, ein Haus der Vielfalt zu erschaffen und mit Leben zu füllen. Ich wusste, ich muss es können, sonst enttäusche ich diese Menschen und dann war ich plötzlich jemand, die managen konnte und Kommunikatorin im Stadtrat war. 

Portraits von Jagoda Marinić

Jagoda Marinić richtet ihren Blick gern nach außen. Sie liebt intensive Gespräche. © Asja Caspari

alverde: Das Interkulturelle Zentrum haben Sie elf Jahre lang geleitet. Es gilt als Vorbild für Willkommenskultur und die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte. Was war Ihnen wichtig? 

Jagoda Marinić: Die Menschen, die nach Deutschland kommen, müssen sich und wir sie aus der Opferrolle befreien. Wir sehen schnell, was sie nicht gut können, beispielsweise wenn sie die deutsche Sprache noch nicht gut beherrschen. Aber Einwanderergeschichten sind vielfach Aufsteigergeschichten in Deutschland. Das machen wir uns oft nicht bewusst, weil wir meistens die negativen Geschichten erzählen. 

alverde: Wie kann die kulturelle Begegnung zur Integration beitragen? 

Jagoda Marinić: Durch kulturelle Begegnung ermöglichen wir den Menschen zu zeigen, was sie können. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was kannst Du und was möchtest Du tun? So kann Neues entstehen. 

alverde: Woher nehmen Sie Ihre Energie? 

Jagoda Marinić: Ein wichtiger Motor für mich ist, dass ich mich immer wieder in mein Kinder-Ich zurückfallen lasse, das lernen will, wissbegierig und neugierig ist. Ich will mir gestatten, mich als immer wachsendes Wesen zu empfinden, das lernen darf, seinen Wesenskern immer weiter zu entfalten. 

alverde: Laden Sie deshalb in Ihrem Podcast „Freiheit Deluxe“ Menschen ein, die ungewöhnliche Blickwinkel und Perspektiven eröffnen? 

Jagoda Marinić: Diese intensive Auseinandersetzung mit meinen Gästen verdeutlicht mir, wie unzureichend wir auf Menschen schauen. Der Mensch ist vielschichtiger, als man es von außen erschließen kann. Im Gespräch entfaltet sich mein Gegenüber und ich lerne Gedanken kennen, die ich selbst vorher nie gedacht habe. Und wenn man gemeinsam neue Gedanken entwickelt, lernt man auch neue Seiten an sich selbst kennen.  

alverde: Das führt auch dazu, dass Sie mit Ihren Gästen dann nicht immer einer Meinung sind.  

Jagoda Marinić: Argumentieren und streiten im besten Sinne ist eine hohe Kunst der Gesprächskultur. Ich liebe diese Möglichkeit, mich zu positionieren, weil sie mir zeigt, dass ich in einer Demokratie bin. Dass ich mich mit allen anderen in Freiheit austauschen kann. 

alverde: Gibt es Dinge, die Sie bereuen? 

Jagoda Marinić: Reue verbaut die Freude und das Glück. Sie lässt uns nicht im Heute leben, sondern ist immer rückwärtsgewandt. Das kann uns die Möglichkeit nehmen, zu werden, wer wir werden können. Ich bereue nichts, was ich getan habe. 

Über Jagoda Marinić 

Sie ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Journalistin und Podcasterin. Schon früh erlangte sie durch ihre Literatur Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet. Außerdem leitete sie elf Jahre das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg. Als Kolumnistin und in ihrem Podcast „Freiheit Deluxe“ setzt sie sich mit aktuellen politischen Themen wie Freiheit, Vielfalt, Rassismus, Identität und Gleichstellung auseinander.  

Drei Dinge über Jagoda Marinić

  1. Sie hätte gerne Zeit, um mehr Sprachen und mehr Tänze zu lernen.

  2. Im Urlaub macht sie Inselhopping in Kroatien, um ihre Verwandten zu besuchen.

  3. Die Werke von Max Frisch haben sie in die Welt der Literatur geführt.

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