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Die Regisseurin über viel-
schichtige Filme

Potrait von Nora Fingscheidt

"Ich finde die Kämpfe mit Gut und Böse in uns am spannendsten", sagt Regisseurin Nora Fingscheidt. © David Maupilé

Interview mit Nora Fingscheidt

Geschichtenerzählerin, Teamplayer und Schauspielflüsterin: Regisseurin Nora Fingscheidt bringt vielschichtige Stoffe mit Sogwirkung auf die Leinwand. Und das verdanken wir zu einem kleinen Teil dem Schmachtfetzen „Titanic“.

Das leise Klicken der Kameras ist Nora Fingscheidt gewohnt, aber ein Shooting für alverde ist noch einmal etwas anderes: „Bei dm bin ich ja alle paar Tage, um Windeln einzukaufen – seltsam, wenn ich dann an der Kasse das Cover mit meinem Gesicht sehe.“ Doch mit Szenarien, die vor einiger Zeit noch komplett unwahrscheinlich klangen, kennt sich die Regisseurin aus: Ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ erhielt acht deutsche Filmpreise und sie drehte danach mit Sandra Bullock und Saoirse Ronan.

alverde: Ihr neuer Film „The Outrun“ beruht auf einem biografischen Buch. Was hat Sie in der Geschichte von Amy Liptrot so angesprochen, dass Sie sie verfilmen wollten?
Nora Fingscheidt: Ich fand es berührend, wie brutal ehrlich sie mit sich und ihrer Alkoholsucht umgeht. Gleichzeitig hat der Roman auch meine Sehnsucht geweckt, ans Ende der Welt zu fahren und alleine auf einer einsamen Insel zu sein – in dem Fall die Orkney-Inseln bei Schottland. Ein weiterer Grund war, dass ich unbedingt einmal mit Saoirse Ronan arbeiten wollte, die als Schauspielerin und Produzentin bereits dabei war.

alverde: Haben Sie einen anderen Blick auf die Themen Alkohol und Sucht bekommen?
Nora Fingscheidt: Mir war klar, dass Alkohol eine krasse körperliche Selbstzerstörung sein kann. Alkoholismus ist wie Suizid auf Raten. Aber mir war nicht bewusst, wie herausfordernd das Trockensein in einer Gesellschaft ist, in der Alkohol so allgegenwärtig ist und zum Teil glorifiziert wird. Gerade als junger Mensch wird man oft komisch angeguckt, wenn man nicht trinkt. Das erfordert schon eine extreme Willensstärke. Ich finde es wichtig, zu erzählen, wie lange es dauert, bis trockene Alkoholiker wirklich wieder Freude am Leben empfinden.

alverde: Sie haben das Drehbuch zusammen mit der Buchautorin geschrieben – war das eine Bedingung von Amy Liptrot oder Ihr Wunsch?
Nora Fingscheidt: Das war mein Wunsch. Ich habe eine große Verantwortung ihr und ihren Eltern gegenüber empfunden. Saoirse und ich gehen danach zum nächsten Projekt, aber Amy muss für immer mit dem Film leben. Ich wollte, dass sie alle Schritte, die man gehen muss, um aus ihrem Buch einen Spielfilm zu machen, inhaltlich mitgeht und sagt: ‚Ich fühle mich repräsentiert.‘

alverde: Im Mittelpunkt Ihrer drei Spielfilme stehen Frauen mit Brüchen, Narben und einem Verhalten, das nicht immer nachvollziehbar und sympathisch ist. Gleichzeitig kommt man den Frauen sehr nah und sie wirken nach. Warum erzählen Sie von solchen ambivalenten Heldinnen und nicht einfach von sogenannten starken Frauen?
Nora Fingscheidt: Ich finde die Kämpfe mit Gut und Böse in uns am spannendsten. Denn die Krux des Menschseins ist, dass man alles irgendwie in sich trägt. Dass es jedes Mal um eine Frau geht, ist Zufall. Nur bei ‚Systemsprenger‘ war es mir wichtig, dass es ein Mädchen ist, weil ich das Klischee von den aggressiven Jungs vermeiden wollte. Ich würde auch genauso einen Film machen über einen männlichen Protagonisten, der mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat.

alverde: Saoirse Ronan hat sehr intensive Szenen, trotzdem hat man nicht das Gefühl, sie trägt zu dick auf. Ist diese Balance zu halten das Wichtigste in der Schauspiel­führung?
Nora Fingscheidt: Ich versuche in erster Linie den Schauspieler zu helfen, damit sie sich frei fühlen und ihre Rolle möglichst authentisch spielen. Die einen wollen viel reden, die anderen lieber gar nicht und die nächsten arbeiten sehr körperlich. Mein Job ist herauszufinden, was mein Gegenüber eigentlich von mir braucht. Schauspielerei ist eine sehr komplizierte Aufgabe: Man muss lockerlassen und trotzdem total konzentriert sein. Mir ist es ein Rätsel, wie es geht – ich kann es nicht.

alverde: Haben Sie deshalb eine Ausbildung zum Schauspielcoach gemacht, um sich noch besser einfühlen zu können?
Nora Fingscheidt: Als ich meine ersten Kurzfilme drehte, merkte ich, dass ich kein richtiges Handwerkszeug habe, um Schauspieler zu führen. Ich wusste, was ich sehen will, aber nicht, wie ich es zusammen mit ihnen erreichen konnte. Ans Coaching bei Sigrid Andersson geriet ich eher zufällig, bevor ich Regie studierte – es war und ist noch nicht weit verbreitet. Ich denke, dass ich dadurch ein tieferes Verständnis für die Kunst des Schauspielens bekommen habe, was mir in meinem Studium und beim Drehen sehr geholfen hat.

Portraits von Nora Fingscheidt

Nora Fingscheidt glaubt an die Magie des kreativen Prozesses. © David Maupilé

alverde: „Systemsprenger“ war eine kleine Produktion in Deutschland, „The Unforgivable“ ein großer Netflix-Film und „The Outrun“ ein internationaler Film mit mehreren Drehorten. Waren die Großproduktionen zunächst einschüchternd?
Nora Fingscheidt: Meine Arbeit ist im Kern dieselbe: Wie kann ich die Geschichte am besten erzählen, was sind die eindrücklichsten Bilder dafür, welche Figur ist am interessantesten? Ob ich 2.000 Lampen und ein großes Team am Set habe, ist zweitrangig. Der Druck ist bei einer großen Produktion natürlich höher. Aber den muss ich am Set ausblenden, was dort zählt, sind die Teamarbeit und die richtigen inhaltlichen Entscheidungen zu treffen.

alverde: Hat sich Ihr Verständnis von Ihrem Beruf über die Jahre verändert?
Nora Fingscheidt: Nicht verändert, aber es ist für mich klarer geworden: Es gibt das Konzept des Einzelgenies, das vorausschreitet, und alle müssen folgen – das bin ich überhaupt nicht. Ich glaube an die Magie des gemeinsamen kreativen Prozesses. Ich kann nicht schauspielen, die Kamera führen und habe nicht den Blick für die Klamotten, aber mein Job ist, die tolle Kreativität des Teams so zu kanalisieren, dass etwas Stimmiges entsteht.

alverde: Sie hatten schon als Jugendliche den Berufswunsch Regisseurin. Wissen Sie noch, was Sie damals daran gereizt hat?
Nora Fingscheidt: Ich hatte damals keine Vorstellung, wie Film und Regie funktionieren, denn ich komme nicht aus einem künstlerischen Haushalt. Ich würde ja gerne eine intellektuellere Geschichte erzählen, aber bei mir war ‚Titanic‘ der Auslöser. Ich war noch Stunden nach dem Film persönlich sauer, dass Jack gestorben ist. In dem Moment wurde mir erst klar, dass jemand diese Entscheidung getroffen hatte. Geschichten, ob Buch, Film oder Hörspiel, haben mich immer fasziniert, aber das war das erste Mal, als ich dachte: Könnte ich das nicht auch machen? Und ‚Titanic‘ neu drehen, Jack überleben lassen? (lacht)

alverde: Wie familienfreundlich sind der Beruf und die Filmbranche?
Nora Fingscheidt: Leider familienunfreundlichst. Regie ist ein Beruf, der 200 Prozent von einem fordert, genau wie Familie. Man ist oft lange am Stück weg oder hat sehr lange Tage. Ich habe jahrzehntelang nicht wirklich Urlaub gemacht und kann mich nicht an Feiertage erinnern, an denen ich nicht doch noch ein bisschen arbeiten musste. Alles aus Liebe oder auch aus einer gewissen Verrücktheit der Kunst gegenüber. Meine Familie hat das glücklicherweise mitgemacht. Mein großer Sohn ist quasi an Filmsets groß geworden und der Kleine war als Baby schon sechs Monate in Schottland mit dabei. Gerade bin ich an dem Punkt meines Lebens, an dem ich mich schon frage: Wie lange will und kann ich das so weitermachen? Die Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden.

alverde: Was müsste sich strukturell ändern?
Nora Fingscheidt: Ich glaube, die Branche ist im Wandel. Es ist immer akzeptierter, dass Du als Frau nicht auf Kinder verzichten musst, um erfolgreich zu sein. Das war in der Generation, die den Regieberuf erst für Frauen erobert hat, noch anders. Gleichzeitig übernehmen Männer mehr Verantwortung in der Familie. In Produktionsbüros erlebe ich öfter, dass ein Produzent nachmittags sagt: ‚Ich muss zur Kita, mein Kind abholen.‘ In Dänemark beispielsweise wurden die Arbeitszeiten für Dreharbeiten schon verkürzt. Es ist vor allem die Mentalität, die sich ändern muss. Für mich war es ein langer Lernprozess, die Ansprüche an mich selbst herunterzuschrauben. Mein nächstes Projekt ist das Baby, das im Herbst zur Welt kommt. Ich werde Drehbücher lesen, Ideen entwickeln – für meine Verhältnisse lasse ich es ruhig angehen.

„Regie ist ein Beruf, der 200 Prozent von einem fordert, genau wie Familie.“

Nora Fingscheidt

Ihrem Berufswunsch näherte sie sich, indem sie nach der Schule in Berlin am Aufbau der selbst organisierten Filmschule filmArche e.V. mitwirkte. 2008 bis 2017 studierte Nora Fingscheidt dann an der Filmakademie Baden-Württemberg. Mit Kurzfilmen wurde sie damals schon auf das Max-Ophüls-Festival eingeladen. Ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ (2019) erhielt zahlreiche Preise. Nach dem Netflix-Film „The Unforgivable“ läuft ihr neuer Film „The Outrun“ am 5. Dezember in den Kinos an. Die 41-Jährige lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Drei Dinge über Nora Fingscheidt

  1. Sie würde gern einmal nach Marokko reisen.

  2. Ihre liebste Herbst-Aktivität sind Waldspaziergänge.

  3. Einer ihrer Lieblingsfilme seit Kindertagen ist „Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Ende der Auflistung