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Interview mit Verena Bentele – Mit Zutrauen ins Ziel 

Potrait von Verena Bentele

„Vertrauen ist die Grundvoraussetzung dafür, auch mal ein Risiko zu wagen.“ © Boris Breuer

Als Paralympics-Siegerin weiß Verena Bentele, wie wichtig Beharrlichkeit und Fokus für das Erreichen der eigenen Ziele sind. Auch außerhalb des Sports kommen ihr diese Eigenschaften zugute.

Mit einem Lächeln betritt Verena Bentele den Raum und streckt uns zielgerichtet ihre Hand entgegen. Als Blinde ergreift sie gerne die Initiative – das nimmt die erste Hürde und Unsicherheiten bei der Begrüßung. „Ich muss im Vorfeld recht deutlich meine Bedürfnisse äußern. Je offener ich bin, desto leichter kann mich mein Gegenüber unterstützen“, erklärt die 42-Jährige. Einfühlungsvermögen, Toleranz und Interesse sind dafür notwendig – wichtige Eigenschaften für eine inklusive Gesellschaft.

alverde: Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema, mit dem Sie sich sowohl beruflich als auch privat befassen. Wie definieren Sie diesen vielschichtigen Begriff?
Verena Bentele: Für mich bedeutet Gerechtigkeit, Unterschiede und Nachteile auszugleichen. Wenn Menschen beispielsweise mit ihrem Gehalt die Wohnungsmiete nicht zahlen können, muss der Staat einen Ausgleich schaffen. Jeder sollte sich fragen: Was kann ich beisteuern? Denn gerecht ist auch, wenn sich alle nach ihren Möglichkeiten an der Gemeinschaft beteiligen. Oft ist das eine Frage des Perspektivwechsels: Wenn ich mich ehrlich in andere Menschen und deren Lebenssituation hineinversetzen kann, bekomme ich auch einen neuen Blickwinkel zum Thema Gerechtigkeit.

Wie erleben Sie Ihren Alltag als blinde Frau – gelingt es Ihren Mitmenschen, sich in Ihre Situation hineinzuversetzen?
Viele Menschen können sich das „Nicht-Sehen“ gar nicht vorstellen. Das ist zunächst vollkommen in Ordnung. Problematisch wird es dann, wenn Menschen mich beispielsweise anfassen, anstatt mit mir zu sprechen. Der bessere Weg ist, offen auf mich zuzugehen und Fragen zu stellen: Wie löst Du Deine Herausforderungen? Welche Unterstützung brauchst Du und welche Hilfsmittel helfen Dir? Nur so können Barrieren abgebaut und gemeinsame Erfahrungen gesammelt werden.

Beim Laufen eines Marathons profitieren Sie und Ihr Begleitläufer von dieser gemeinsamen Erfahrung und den Fähigkeiten des jeweils anderen.
Am schönsten ist der Moment, in dem wir gemeinsam das Ziel erreichen. Mein Begleitläufer führt mich über ein Bändchen – er gibt mir dadurch die Richtung vor. Die Leistung erbringen wir gemeinsam, und das ist das Tolle daran. Ich würde mir das auch für andere gesellschaftliche Bereiche wünschen. Wenn Menschen begreifen, was sie gemeinsam erreichen können, ohne sich von ihren Unterschieden aufhalten zu lassen, schafft das Sensibilität.

Sie haben das Buch „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“ geschrieben. Wer hat Ihnen Vertrauen geschenkt?
Meine Eltern haben mich schon sehr früh dazu ermutigt, Dinge selbstständig auszuprobieren. Ich bin in einem winzigen Dorf am Bodensee aufgewachsen. Meine Eltern sind Demeter-Bauern, haben Hopfen und Äpfel angebaut. Auf unserem Hof konnte ich mich austoben, auf Ponys reiten und mir auch mal eine blutige Nase holen. Dieses Zutrauen hat mir eine starke Basis geschenkt.

Leider erfahren nicht alle Kinder so viel Zutrauen in ihrem Elternhaus wie Sie. In Ihrer Position als Präsidentin des Sozialverbands VdK machen Sie auf Ungleichheiten aufmerksam.
Wenn Kinder aus verschiedenen Gründen keine Unterstützung von ihrer Familie erhalten, muss sie woanders herkommen: von Kindergarten und Schule oder von Musik- und Sportvereinen. Ohne die notwendigen finanziellen Mittel sind Bildung und Teilhabe gar nicht erst möglich. Wir müssen in ein starkes Bildungssystem investieren, damit alle Kinder dieselben Möglichkeiten haben.

Als Coach unterstützen Sie Menschen in verschiedenen Lebenslagen. Ist das eine Berufung für Sie?
Ich bin in diese Rolle Stück für Stück hineingewachsen. In den letzten Jahren wurden mir immer wieder Fragen zu meiner Lebensführung gestellt. Wie schaffst Du das, als blinde Frau Leistungssport zu betreiben und zu studieren? Wie kannst Du nach einer Niederlage am nächsten Tag wieder Mut schöpfen? Ich habe festgestellt, dass meine Geschichte andere Menschen inspiriert und ihnen Mut schenkt. Vielen ist ihr eigenes Potenzial nicht bewusst. Doch wir können lernen, unsere Kraft aus anderen Bereichen zu schöpfen – dabei möchte ich gerne unterstützen und ein Vorbild sein.

Portraits von Verena Bentele

„Der Sport ist mein MEDIUM. Durch ihn habe ich gelernt, Brücken zu bauen.“ © Boris Breuer

Am 8. März ist Weltfrauentag. Welche Frauen haben Sie inspiriert?
Mich inspirieren Frauen, die für ihre Meinung und Werte einstehen. Die „Mütter des Grundgesetzes“ beispielsweise – die vier Frauen, die sich im Jahr 1948 im Parlamentarischen Rat dafür eingesetzt haben, dass die Gleichstellung von Mann und Frau ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Für diesen Einsatz bin ich unendlich dankbar. Diese Frauen haben für ihre Werte gekämpft und Veränderung angestoßen.

Was muss sich in puncto Geschlechtergerechtigkeit noch wandeln?
Das Schöne ist: In den letzten Jahrzehnten hat sich schon einiges getan. Ich merke aber, dass das Thema Care-Arbeit noch immer stark auf den Schultern von Frauen lastet. Vor allem Mütter müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Arbeitszeiten durch flexible Unterstützungsangebote so zu gestalten, wie sie es wollen. Was wir aber definitiv brauchen, sind feste Rahmenbedingungen. Deshalb finde ich die Frauenquote auch so wichtig. Solche Richtlinien müssen wir aktiv festlegen, denn wenn wir warten, bis viele Frauen irgendwann mal eine Führungsposition erhalten, vergeht viel zu viel Zeit.

Eine offene Gesellschaft, die achtsam miteinander umgeht – was braucht es dafür?
Ich wünsche mir, dass wir alle begreifen, dass wir nur als Gemeinschaft funktionieren können. Wir sollten hinterfragen, welchen Einfluss unser Handeln auf unsere Mitmenschen und unsere Umwelt hat. Unsere Ressourcen sind begrenzt. In unserer schnelllebigen Welt müssen wir lernen, innezuhalten und nach links und rechts zu blicken. Und wenn es notwendig ist, sollten wir auch mal einen Schritt zurücktreten.

  1. Am liebsten liest sie gute Krimis und Gesellschaftsromane.

  2. Sie liebt Kaffee und schwört bei der Zubereitung auf ihre Siebträgermaschine.

  3. Im Mai wird sie die Mecklenburger Seenplatte mit dem Fahrrad umrunden – knapp 300 Kilometer am Stück.

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Verena Bentele

wurde 1982 in Lindau am Bodensee geboren und wuchs mit zwei Geschwistern auf einem Demeter-Bauernhof auf. Als blinde Biathletin und Skilangläuferin wurde sie viermal Weltmeisterin und gewann zwölfmal die Paralympics. Nach ihrem Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft in München absolvierte sie eine Ausbildung zum systemischen Coach. Von 2014 bis 2018 war sie als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen tätig. Seit Mai 2018 engagiert sich die 42-Jährige als Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.

Mehr unter: verena-bentele.com