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Ungewissheit - vom Reiz des Ungewissen 

Eine Person in einem roten Oberteil hält einen Finger vor den Mund, der Hintergrund ist blau

Was soll ich tun? Machen oder lassen? Wir treffen täglich zig Entscheidungen, oft, ohne alle Faktoren zu kennen. ¹⁾

Im Interview mit drei Experten

Nicht alles lässt sich wissen. Nicht alles lässt sich planen. Und oft ist unklar, was erfolgreich ist. Ungewissheit gehört zum Leben – in der Wissenschaft, bei wirtschaftlichen Entscheidungen, im privaten Alltag. Aber wie gehen wir damit um? Drei Experten aus unterschiedlichen Bereichen zeigen, warum es lohnt, das Unklare unvoreingenommen zu betrachten. 

1. Vom Wert des Zweifels

alverde: In der Wissenschaft ist Erkenntnis nie endgültig. Was bedeutet das konkret? 

Andreas Scheu: Es gibt drei zentrale Formen wissenschaftlicher Unsicherheit: erstens die epistemische, also erkenntnistheoretische Unsicherheit. Damit sind Wissenslücken gemeint, die Forschenden bekannt sind, aber auch Leerstellen, derer wir uns noch nicht einmal bewusst sind. Zweitens die methodische Unsicherheit und Begrenzungen, die sich aus der Art der Datenerhebung und -auswertung ergeben: durch Messfehler, Stichprobengrößen, statistische Verfahren. Drittens die Konsensunsicherheit: Wenn Forschende auf Basis derselben Daten zu unterschiedlichen Bewertungen kommen oder sich die Datenlage selbst widersprüchlich darstellt. 

alverde: Wie gehen Wissenschaftler in der internen und externen Kommunikation damit um? 

Andreas Scheu: In Fachkreisen werden Unsicherheiten deutlich benannt. Auf dem Weg in die Öffentlichkeit gehen diese Nuancen aber häufig verloren – durch Öffentlichkeitsarbeit, Medien oder auch Forschende selbst, die verständlich und prägnant sein wollen. Heute kommunizieren viele direkt über soziale Medien, was Zuspitzungen verstärken kann. Studien zeigen zwar: Wenn Unsicherheiten transparent vermittelt und eingeordnet werden, kann das Vertrauen stärken. In der Praxis besteht jedoch die Herausforderung, genug Kontext zu geben, ohne das Interesse des Publikums zu verlieren. Und es besteht die Gefahr, dass kleine Unsicherheiten oder Uneinigkeiten aufgebauscht oder instrumentalisiert werden. All das muss in der Wissenschaftskommunikation mitbedacht werden. 

alverde: Warum ist Vertrauen in Wissenschaft wichtig, trotz Unsicherheiten? 

Andreas Scheu: Weil wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage für individuelle und politische Entscheidungen sein können. Das Ziel ist jedoch kein blindes, sondern ein kritisches Vertrauen. Wissenschaft ist prinzipiell kontrollierbar: Studien sind einsehbar, diskutierbar, wiederholbar. Das unterscheidet sie von anderen Formen des Wissens. Wir haben in Deutschland ein gesundes Vertrauen in Wissenschaft. Eine kluge Kommunikation von Unsicherheiten kann es festigen.

„Wenn Unsicherheiten transparent und eingeordnet vermittelt werden, kann das Vertrauen stärken.“ – Prof. Dr. Andreas Scheu

2. Vom Reiz des Ungewissen

alverde: Sicherheit gilt als menschliches Grundbedürfnis – genauso wie Neugier und der Drang, ins Ungewisse aufzubrechen. Wie passt das zusammen? 

Nils Spitzer: Wir sind in eine komplexe Umwelt geworfen und brauchen beide Strategien, um zurechtzukommen: das Abwarten und die Vorsicht genauso wie die offensive Auseinandersetzung mit dem Unbekannten. Spannend finde ich die Wechselwirkung zwischen beiden: In einer sehr sicheren Umgebung suchen viele Menschen von sich aus neue Reize. Und umgekehrt: Was mir zunächst fremd erscheint, kann mit der Zeit vertraut werden, wenn ich nicht davor weglaufe. So kann Neugier am Ende zu Sicherheit führen. 

alverde: Welche Faktoren beeinflussen, ob ein Mensch eher sicherheitsbedürftig oder risikofreudig ist? 

Nils Spitzer: Ein Teil ist biologisch angelegt. Daneben spielen Erfahrungen eine große Rolle – insbesondere in der Kindheit. Wer früh überfordert war oder überbehütet aufgewachsen ist, neigt später stärker zum Sicherheitsbedürfnis. Unterm Strich ist die Mehrheit tendenziell risikoscheu. In Experimenten, in denen Probanden eine Entscheidung treffen müssen zwischen 100 Euro, die sie sicher bekommen, und 200 Euro, die sie mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit bekommen, entscheiden sich die meisten für die erste Option. 
 
alverde: Was spielt sich in unserem Kopf ab, wenn uns Ungewissheit belastet? 

Nils Spitzer: Menschen mit geringer Ungewissheitstoleranz haben oft zwei Grundüberzeugungen: Erstens, dass jede Form von Ungewissheit bedrohlich ist – auch wenn objektiv keine Gefahr besteht. Zweitens, dass sie in unklaren Situationen handlungsunfähig werden. Diese Gedanken erzeugen Stress – nicht erst in der Situation selbst, sondern schon im Vorfeld. 

alverde: Sie beschreiben „Ungewissheitstoleranz“ als eine Schlüsselkompetenz in unserer Zeit. Warum? 

Nils Spitzer: Weil wir heute in einer Multioptionsgesellschaft leben. Es gibt keine klaren Normalbiografien mehr, sondern unzählige Möglichkeiten – beruflich, familiär, gesellschaftlich. Wer Ungewissheit möglichst schnell entkommen will, entscheidet sich oft für das Erstbeste – einfach, um Sicherheit herzustellen. Wer Ungewissheit hingegen aushalten kann, trifft Entscheidungen freier und nutzt Gestaltungsspielräume. 

Wagen und abwägen 

Nils Spitzer gibt Anregungen für mehr Ambiguitätstoleranz und Abenteuer: 

1. Bitte nicht spoilern 

Denken Sie an Situationen, in denen Sie Unsicherheit genießen: Möchten Sie wirklich wissen, wer das Tennismatch gewinnt oder welche Geschenke Sie zu Weihnachten bekommen? Es gibt einige Lebensbereiche, in denen wir Unsicherheiten gut aushalten können und sogar genießen. Überlegen Sie, in welchen Situationen Sie noch Kontrolle abgeben und sich überraschen lassen können. 

2. Knapp aus der Komfortzone 

Unternehmen Sie einmal im Monat ein Mikroabenteuer: etwa eine Stadt in der Umgebung erkunden, ohne Plan. Oder eine Sneak-Preview im Kino besuchen. Es geht nicht darum, Mut oder Toleranz maximal auf die Probe zu stellen. Sehen Sie es eher als Chance, etwas auszuprobieren, das knapp neben Ihren gewohnten Wegen liegt. Vielleicht entdecken Sie eine neue Lieblingsaktivität, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden Sie aber auch bei einem Flop merken: „Alles halb so schlimm.“ 

3. Das Gedankenkarussell umlenken 

Stellen Sie sich bei Sorgen drei Szenarien vor: den schlimmsten Fall, den wahrscheinlichsten Verlauf – und eine überraschend gute Wendung. Diese Übung erweitert den Blick und erinnert daran: Es kann alles auch anders kommen. 

3. Von Chancen im Wandel

alverde: In unsicheren Zeiten konsumieren Verbraucher zurückhaltend und Unternehmen zögern mit Investitionen. Warum kann Unsicherheit dennoch eine Chance sein? 

Herbert Dawid: Weil sie Innovationen begünstigt. Der Ökonom Joseph Schumpeter nannte das „schöpferische Zerstörung“: Wenn Märkte sich wandeln – etwa durch neue Technologien – und die alten Erfolgsmodelle nicht mehr tragen, entstehen Räume für Neues. Das eröffnet Chancen für Ideen und Produkte. Behaftet allerdings mit Risiken, weil man nicht weiß, welche sich durchsetzen, welche nur Zwischenschritte bleiben und welche scheitern. Ob E-Mobilität oder Wasserstoff den Verbrenner ablösen könnten, war lange unklar. Oder ob autonomes Fahren technisch überhaupt funktioniert. Heute sind viele Fragen geklärt, doch rechtlich ist etwa die Haftung bei autonomen Fahrzeugen noch offen. 

alverde: Profitieren eher Start-ups oder große Unternehmen von Umbruchphasen? 

Herbert Dawid: Die harten Faktoren sprechen für große Unternehmen. Sie können hohe Summen investieren und überleben auch, wenn eine Innovation scheitert – was oft vorkommt. Was ihnen eher im Weg steht, sind träge Entscheidungsstrukturen und die Schwierigkeit, sich von Erfolgsmodellen zu verabschieden. Kleine, agile Unternehmen haben eher das Gespür für neue Märkte. Ihre Herausforderung ist, Investoren zu finden, die bereit sind, Risiken mitzutragen. 

alverde: Deutsche haben den Ruf, nicht so risikofreudig zu sein. Würden wir besser fahren, wenn wir weniger Verlustängste und mehr Risikobereitschaft hätten? 

Herbert Dawid: Schaut man allein aufs Wirtschaftswachstum, wäre mehr Risikobereitschaft gut. Aber in der Ökonomie gibt es auch das Konzept der Wohlfahrt: Es zählt der Gesamtnutzen in einer Volkswirtschaft. Und viele Menschen ziehen psychologisch einen Nutzen daraus, in sichere Anleihen zu investieren und sich mit weniger Gewinn zufriedenzugeben. Ein entspannterer Umgang mit Unsicherheit – sowohl individuell als auch in Institutionen – wäre schon ein Fortschritt. Denn nicht jede Unsicherheit ist eine Bedrohung. 

„Wenn Märkte sich wandeln und die alten Erfolgsmodelle nicht mehr tragen, entstehen Räume für Neues.“ – Prof. Dr. Herbert Dawid

Die drei Experten im Überblick

  1. Prof. Dr. Andreas Scheu, Kommunikationswissenschaftler

    Er erforscht seit Langem, wie Wissenschaft, Medien und Politik interagieren. Seit 2024 leitet er die Forschungsgruppe „Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und ist Professor an der Universität Klagenfurt.

  2. Nils Spitzer, Diplom-Psychologe und Psychotherapeut

    In seiner Berliner Praxis behandelt er vielfältige psychische Beschwerdebilder. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Behandlung von geringer Ungewissheitstoleranz und Perfektionismus. Zu diesem Thema hält er auch Fortbildungen ab.

  3. Prof. Dr. Herbert Dawid, Wirtschaftswissenschaftler

    Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Analyse ökonomischer Dynamik, insbesondere im Kontext von Innovation und technologischem Wandel. Er hat eine Professur an der Universität Bielefeld und dort auch das interdisziplinäre Center for Uncertainty Studies mitbegründet.

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