Junge Menschen leben in einer Wohngemeinschaft statt im Gefängnis

Mit seiner Ausbildung schafft Azad (rechts) eine Basis für das Leben in Freiheit. © Tony Miersba
Im Seehaus Leipzig leben junge Strafgefangene in Wohngemeinschaften mit Familienanschluss – als Alternative zum Gefängnis. Der Alltag ist straff durchgetaktet und soll die jungen Männer auf das Leben in Freiheit vorbereiten.
Mit Schwung stößt ein junger Mann die Schaufel in einen schwarzen Erdhaufen. Seine Füße stecken in dunklen Gummistiefeln, auf seiner schwarzen Arbeitshose leuchtet ein bunter Obelix-Aufnäher. Im schnellen Tempo verteilt er die Erde. Nur wenn er spricht, macht er kurze Pausen. Azad*, 25, ist im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Ausbaufacharbeiter. Und er ist Strafgefangener. Mehr als drei Jahre seiner Haftzeit hat er hinter Gittern verbracht. Seit gut einem Jahr kann er nach Feierabend den unvergitterten Blick auf den Hainer See im Süden Leipzigs genießen. Am Ufer stehen zwei mehrstöckige Bauten des Seehaus Vereins. Bis zu 14 junge Strafgefangene leben dort mit ihren Hauseltern und deren Kindern in zwei Wohngemeinschaften. Ein Strafvollzug in freier Form.
Ohne Gitter und Gefängnismauer
„Wir haben keine baulichen Sicherheitsmaßnahmen, keine Gitter, keine Gefängnismauern“, sagt der Seehaus-Mitarbeiter Franz Steinert. „Wir stellen Sicherheit über Beziehungen her.“ Durch das Miteinander, die gemeinsame Arbeit und soziales Training sollen die jungen Männer auf ihre Zukunft vorbereitet werden, auf ein Leben ohne weitere Straftaten. Ihr Alltag ist durchstrukturiert – und verbindlich. „Das sorgt ein Stück weit für Sicherheit, weil keine Langeweile aufkommt.“ Es soll aber auch ein Training sein für die Zeit nach der Haft. „Die Männer haben meist recht bürgerliche Wünsche: Arbeit, Wohnung, Familie. Wenn sie das schaffen wollen, müssen sie arbeiten und sich an Regeln halten.“ Ein Stufensystem spiegelt das Sozialverhalten der jungen Strafgefangenen wider. „Wer mitmacht, kann seinen Bewegungsradius nach und nach vergrößern.“ Wer flieht oder körperliche Gewalt anwendet, muss sofort zurück in den geschlossenen Vollzug.
Azad hält sich an Regeln, ist motiviert, hilft mit. Er hat die höchste Stufe hier im Haus erreicht, das Maximum an Privilegien. Das heißt: In seiner knappen Freizeit kann sich Azad auf dem Seehaus-Gelände frei bewegen, darf auf den Außenbaustellen arbeiten und einmal im Monat seine Familie besuchen. Ob sein Leben außerhalb der Gefängnismauern leichter geworden ist? Azad schüttelt den Kopf. „In einer Strafanstalt ist der Tagesablauf viel gemütlicher, immer nach dem Motto: Alles kann, nichts muss. Der Alltag im Seehaus fordert einem mehr ab.“ Aber auch familiärer. Als ihm im Seehaus ein kleines Mädchen lachend entgegenläuft, begrüßt er es, gibt ihm einen schnellen Kuss auf das blonde Haar.
Familienbande statt Konkurrenzdenken
Am Abend sitzt Azad mit seinen fünf Mitbewohnern, seinen Hauseltern sowie den Eltern seiner Hausmutter am Tisch. „Wenn Deine Tochter meine WG-Mutti ist, bist Du meine Oma“, sagt Azad zu der älteren Frau und grinst. Die Stimmung ist ausgelassen. Doch auch am Tisch gibt es Regeln, die eingehalten werden müssen. Erst wenn alle sitzen, wird das Essen verteilt. Erst wenn alle Teller befüllt sind, darf gegessen werden. Wer aufstehen will, muss den Tischverantwortlichen um Erlaubnis fragen. Heute ist das Azad. Er ist ein Familienmensch, hat vier Geschwister. „Wenn man mit jemand an einem Tisch sitzt, das Essen teilt, einander Gutes und Schlechtes erzählen kann, dann ist das schon Familie“, sagt er. Azad sieht es als Privileg an, hier sein zu dürfen, aber auch als Lohn für seine Mühe. „Er ist ein ehrgeiziger, junger Mann. Sehr fokussiert“, sagt Franz Steinert. Nicht jeder entwickelt sich so gut wie Azad. „Aber für mein Empfinden konnten wir jeden jungen Mann, der bei uns war, positiv prägen.“
Seehaus
Der 2001 gegründete Verein betreibt in Leonberg und Leipzig Wohnprojekte für Straftäter zwischen 14 und Ende 20 als Alternative zum geschlossenen Strafvollzug. Die Strafgefangenen leben dort mit ihren Hauseltern-Familien in WGs. Neben Schule oder Arbeit stehen für die Heranwachsenden auch die Auseinandersetzung mit Straftaten, Wiedergutmachung und soziales Training auf dem Programm.
Mehr Infos unter: seehaus-ev.de/seehaus-leipzig