Unsere Gemeinschaft: Wir, aber anders

Vielfalt aus neuer Perspektive ¹⁾
Der Mensch braucht Gemeinschaft
Die Individualisierung gilt als Mega-Trend. Noch nie hatten wir so viele Freiheiten und Möglichkeiten, in Selbstverantwortung zu entscheiden, wie, wo und was wir leben wollen. Das wirft Fragen auf: Was ist eigentlich aus der Gemeinschaft geworden? Hat, was früher evolutionär Sinn machte, heute überhaupt noch Bedeutung? Und wenn: Sind Austausch und Zugehörigkeit heute nicht viel einfacher im Virtuellen möglich? Oder ist es nicht eher so, dass wir mehr davon im Analogen brauchen – also mehr Dorf in der Stadt? Unsere Experten haben darauf spannende Antworten.
Dr. Roman Wittig

Direktor für Forschung am Institut für Kognitionswissenschaften in Lyon und Direktor Des Tai Chimpanzee Projekts an der Elfenbeinküste. © Sven Doering/Agentur_Focus
Der Verhaltensforscher beschäftigt sich dabei auch mit der Kommunikation und Kognition freilebender Schimpansen und anderer Primatenarten in der Wildnis – besonders mit Bonobos, Magabeys und Pavianen, – um die menschliche Evolution zu verstehen.
Was hat uns überhaupt zusammengebracht, Roman Wittig?
alverde: Welchen Sinn hat Gemeinschaft aus evolutionärer Perspektive?
Roman Wittig: Sie ist erst einmal der Schutz vor Raubfeinden. Man kann aber auch sein Territorium besser gemeinsam verteidigen. Das kreiert dann die Bevorzugung von Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft: Ich teile lieber mit jemandem, den ich kenne, als mit jemandem, den ich nicht kenne.
alverde: Also eine Art Ressourcen-Management? Wenn es eh nicht für alle reicht.
Roman Wittig: Das geht noch darüber hinaus. Bei Tieren wie bei Menschen sprechen wir von einem „Wir-Gefühl“: die Überzeugung, gemeinsam besser dran zu sein. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir bereit sind, etwas für die anderen zu tun. Beispiel: Ein Feuerwehrmann, der in ein brennendes Haus rennt, riskiert auch deshalb viel, weil er das Gefühl hat: „Ich mache etwas für die Gemeinschaft.“
alverde: Wie entsteht dieses Gefühl, etwa wenn man dem Feuerwehrmann morgens nur den Kaffee gekocht hat oder ihm die Steuer macht?
Roman Wittig: Es gibt Spezialisten für alles Mögliche. Und nur, wenn Spezialisten zusammenarbeiten und auch gespiegelt bekommen, dass ihr Anteil wichtig ist, kann Gemeinschaft bestehen. So wie bei den Affen. Das Fleisch wird auf alle verteilt, die an der Jagd beteiligt waren, und nicht nur an den, der die Beute schließlich gemacht hat.
alverde: Dieser direkte Zusammenhang von Einsatz und Anerkennung lässt sich in kleinen Gruppen noch nachvollziehen. Aber wie stellen größere Gruppen wie eine Gesellschaft sicher, dass dieses Gemeinschaftsgefühl durch Geben und Nehmen aufrechterhalten wird?
Roman Wittig: Je größer Gemeinschaften werden, desto unübersichtlicher wird es tatsächlich und desto mehr Regeln braucht es. Unter Nachbarn kann man Aufgaben – wie etwa den Gehweg abwechselnd sauber zu halten – noch unter sich aufteilen. In größeren Einheiten entstehen dann schon Hierarchien, damit die Gemeinschaft funktioniert. Da kann nicht jeder die Richtung vorgeben. Aber auch da müssen alle einen Benefit haben und erkennen.
alverde: Wie qualifiziert man sich für diese Schlüsselposition?
Roman Wittig: Bei Schimpansen ist das nicht unbedingt das stärkste Tier. Es ist das, das andere am besten integrieren kann: der Schimpanse, der versteht, die anderen zu befreunden. Weil das einfach in einer Gemeinschaft das höhere Gut ist. Denn selbst der Stärkste kann in einer Gruppe allein nichts ausrichten. Deshalb muss er Beziehungen so aufbauen, dass die anderen ihn unterstützen. Denn es geht nicht ohne die anderen. Das haben zumindest die Schimpansen verstanden.
Prof. Dr. Claudia Neu
Leiterin des Lehrstuhls Soziologie Ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. © Benjamin Jenak
Claudia Neu ist Vorsitzende des Sachverständigenrates „Ländliche Entwicklung“ beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Sie forscht in den Bereichen demographischer Wandel, Zivilgesellschaft sowie Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen.
Brauchen wir mehr Dorf in der Stadt, Claudia Neu?
alverde: Woher kommt die Idee, dass das Leben auf dem Dorf Inbegriff von Harmonie und Zugewandtheit ist?
Claudia Neu: Die Vorstellung vom guten Leben auf dem Land war schon immer eine Antwort auf Wandel und Unsicherheit. Ein Gegenbild etwa zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Heute ist sie sicher ein Reflex auf die Pandemie, aber auch auf die krisenträchtigen Zeiten, in denen wir leben.
alverde: Stellen wir uns das nur so toll vor – oder ist der Zusammenhalt auf dem Dorf wirklich besser?
Claudia Neu: Das Dorf als ein Hort von Nähe, auch zur Natur, der harmonischen Gemeinschaft, in dem man Werte teilt und Traditionen bewahrt, ist eine Geschichte, die wir uns schon seit der Antike erzählen. Das war immer schon nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen gehörten auch die oft so bittere Armut und harte Arbeit, die soziale Ungleichheit und der Druck zur Anpassung.
alverde: Heute kann jeder wegziehen. Trotzdem ist das Land nicht entvölkert – man sucht also die Nähe und Übersichtlichkeit. Ist das Dorf also auch für die, die dort leben, ein Sehnsuchtsort?
Claudia Neu: Die Bewohner selbst erzählen sich auch die Geschichte von Zusammenhalt und Dorfgemeinschaft. Vor allem, um sich damit von der Stadt abzugrenzen. Zugleich gibt es ja Sicherheit, wenn alles in geordneten Bahnen verläuft. Jeder weiß, wo sein Platz ist. Und dann begegnet man sich im Dorf häufiger, im Verein, beim Bäcker, das erzeugt Nähe.
alverde: Man könnte sagen, man kann sich einfach schlechter aus dem Weg gehen …
Claudia Neu: Das ist heute durchaus möglich. Aber ich glaube, im Dorf gibt es eher noch eine Anerkenntnis, dass eine Gemeinschaft nicht nur aus Seelenverwandten bestehen muss, und ein stärkeres Bewusstsein, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Möglicherweise ist das Teil des agrarischen Erbes und in der dörflichen DNA noch fester verankert als in der städtischen, dass auch eher unbequeme Charaktere dazugehören.
alverde: Brauchen wir mehr Dorf in der Stadt?
Claudia Neu: Es hat immer auch dörfliche Strukturen in der Stadt gegeben. Nachbarschaften, Vereine, soziale Orte der Begegnung, heute auch urbanes Gärtnern und Nachbarschafts-Apps. Gemeinschaft wird also auch in der Stadt gelebt, aber man kann sich doch leichter aus dem Weg gehen, muss sich weniger ertragen. Ich glaube, dass ein Teil der Verlusterzählung „es gibt keine Gemeinschaft mehr, der Zusammenhalt schwindet“ möglicherweise damit zu tun hat, dass wir weniger aufeinander angewiesen sind, wir aber auch immer weniger Toleranz den anderen gegenüber aufbringen.
Prof. Dr. Volker Busch
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. © Thomas Dashuber
Als Wissenschaftler forscht er in der Stress- und Schmerzforschung. Genauso wichtig ist ihm die Wissenschaftsvermittlung – darüber, wie unser Gehirn funktioniert, schreibt er Bestseller und hostet einen Podcast.
Leben wir bald nur noch in digitalen Communitys, Volker Busch?
alverde: Wir können uns digital zu jeder Tages- und Nachtzeit verständigen – über Kontinente hinweg und immer auch mal zwischendurch – da kann der analoge Austausch nur schwer mithalten …
Volker Busch: Viele Menschen haben durch die digitale Kommunikation überhaupt erst die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Denken wir auch an die Pandemie und insbesondere an die Zeit des Lockdowns. Eine Studie aus England zeigte, dass gerade in Seniorenheimen, wo man ja lange gar keine Kontakte nach außen mehr haben konnte, die regelmäßigen Video-Calls die depressiven Symptome um mehr als 30 Prozent reduziert haben. Andererseits kommt uns aber durch Fokussierung auf die Bildschirme viel echte Kommunikation abhanden.
alverde: Was steht da genau auf der Verlustliste?
Volker Busch: In der Forschung gibt es erste Ansätze, die vermuten lassen, dass wir kaum noch die Geduld aufbringen, uns länger auszutauschen, zuzuhören und die Perspektive von Menschen einzunehmen, die vielleicht nicht auf unserer Linie sind.
alverde: Andererseits könnte der niedrigschwellige Zugang zu einem Gemeinschaftsgefühl im Digitalen auch ein gutes Mittel gegen Einsamkeit sein …
Volker Busch: Es gibt da eine spannende französische Studie, die nachgewiesen hat: Wenn Sie mit einem Menschen etwa in einem Straßencafé zusammensitzen und sich unterhalten, dann nähert sich Ihr Herzschlag einander an. Und wenn Sie gemeinsam spazieren gehen, passt sich auch die Schrittlänge an. Auch die Hintergrundschwingungen der neuronalen Netzwerke nähern sich in ihrer elektrischen Frequenz einander an. Das findet nicht statt, wenn wir über digitale Medien kommunizieren. Diese so wichtige Qualität der Verbundenheit fehlt.
alverde: Aber ist der Zug zurück in die analoge Welt nicht längst abgefahren?
Volker Busch: Ich bin Therapeut und also Optimist. Um wieder in einen echten Austausch zu kommen, wäre es wichtig, die virtuellen Räume auch wieder zu verlassen. Das müssen Schule, Stadtplanung und auch Unternehmen mit ihren Homeoffice-Plänen leisten. Die virtuellen Räume haben unbedingt ihre Berechtigung. Aber nur wo Menschen wirklich zusammenfinden und sich aufeinander einlassen, gibt es echten Austausch und die Chance auf Verbundenheit über die Echokammern hinaus.
Buch-Tipp
Prof. Dr. Volker Busch: Kopf hoch! Mental gesund und stark in herausfordernden Zeiten. Droemer, 352 Seiten, 20 Euro