Ein Ohr fĂĽr die Crew

Seelsorger Jörn Hille nimmt Kurs auf die Beate, ein Frachtschiff. © Asja Caspari
Im Interview mit Seelsorger Jörn Hille
Containerschifffahrt ist das RĂĽckgrat der globalen Wirtschaft. Neben den groĂźen Containern nehmen sich die Menschen, die an Bord hart arbeiten und lange Zeit von ihren Familien getrennt sind, winzig aus. Die Deutsche Seemannsmission hat genau sie im Blick. alverde hat einen Seemannsdiakon beim Bordgang im Hamburger Hafen begleitet.
Alles dabei? Jörn Hille wirft einen prüfenden Blick in seinen Rucksack: Rosenkränze und Karten mit Segenswünschen, SIM-Karten und Broschüren liegen darin. Ein paar von den knautschigen Anti-Stress-Bällen – „die gehen immer“ – wandern in den Rucksack. Eine silberfarbene Schutzengel-Münze steckt er in seine Hosentasche. Leichtes Gepäck, denn das Wichtigste hat der Seemannsdiakon stets dabei: offene Ohren, einen flexiblen Geist und ein mitfühlendes Herz.
Der leitende Mitarbeiter der Deutschen Seemannsmission leistet „aufsuchende Sozialarbeit“, das heißt: „Wir machen immer den ersten Schritt“. Dabei hilft ihm, dass er nicht nur schnell Vertrauen gewinnt, sondern auch sprachlich kaum Hürden kennt. Teile seiner Kindheit verbrachte er in Ägypten, später arbeitete er als Diakon im Londoner Hafen – Englisch versteht er, auch in fast allen Akzent-Färbungen.
An diesem Samstagvormittag macht sich Jörn Hille auf den Weg zur „Beate“, einem Frachtschiff, das zwischen Dänemark, Deutschland und Schweden verkehrt. Rund 36 Stunden ist es im Hamburger Hafen und fährt dabei drei verschiedene Terminals an, in denen Container ent- und beladen werden.
Die Zeit im Hafen ist für die Besatzung deshalb einerseits stressiger als auf See. Andererseits ist sie die einzige Möglichkeit, einmal andere Gesichter zu sehen und persönliche Angelegenheiten zu erledigen, wie etwa Geld in die Heimat zu überweisen oder eine Online-Bestellung abzuholen. Dabei ist der Bewegungsradius der Seeleute eingeschränkt.
Für eigenständige Landgänge ist die Zeit meist zu knapp und die Entfernung zwischen Hafen und Stadt zu groß. Hamburg ist eine Ausnahme, die Seemannsmission organisiert deshalb manchmal Shuttles in die Innenstadt. Für die meisten indes bleibt das „Clubhaus Duckdalben“ der Seemannsmission im Hafen der beliebteste Anlaufpunkt. Um die Seeleute einzuladen und die zu erreichen, die nicht kommen können, besucht das Team möglichst viele der Frachter, die in Hamburg anlegen.

Seelsorger Jörn Hille im Potrait. © Asja Caspari
Essen gut, (fast) alles gut
Mit ihren 134 Metern Länge ist die „Beate“ zwar ein vergleichsweise kleines Schiff, die Container stapeln sich dennoch in endlosen Reihen. Vorne am Bug steht eine Art schmales Hochhaus – das temporäre Zuhause der Seeleute. Jörn Hille sucht zuerst den nach einhelliger Meinung wichtigsten Raum an Bord auf: die „Messe“, so heißt im Seemannsjargon der Speisesaal. Er achtet auf die Details: „Tabasco-Soße und Papierservietten, das ist schon was. Es gibt Schiffe, auf denen auf den Tischen nur eine Rolle Klopapier steht.“
In der Kombüse brutzelt der Koch verschiedene Gerichte für die internationale Crew. Erst wechseln die beiden ein paar Worte im Türrahmen, dann kommt Joseph Gudelosad in die Messe, hier lässt sich besser reden. Zufällig kennt Jörn Hille die philippinische Heimatinsel des Koches. Das macht die Unterhaltung über die Familie – der älteste Sohn will in die USA auswandern – und Stimmung an Bord – weitgehend entspannt – noch einmal leichter.
Und wenn der Koch Missstände schildern würde, was könnte der Diakon ausrichten? Er und seine Kollegen sind als Sozialarbeiter und Seelsorger unterwegs, nicht als amtlich bestellte Prüfer. Dennoch, ihr Wort hat bei Reedereien Gewicht und die Seemannsmission ist gut vernetzt. „Wir konnten im Hintergrund schon oft etwas für einzelne Seeleute bewirken“, sagt Jörn Hille.
Ankerplatz fĂĽr Sorgen
Die Probleme des Kapitäns kann Jörn Hille nicht lösen, nur geduldig zuhören. Leve Dethlefs kommt aus einer Seefahrerfamilie, er liebt das Manövrieren der großen Pötte und das Fingerspitzengefühl, das ein Team mit unterschiedlichen Kulturen erfordert. Was nervt, sind Bürokratie, Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen. „Naja, vor 40 Jahren hättest Du wahrscheinlich schon ein paar Finger eingebüßt“, wendet Jörn Hille vorsichtig ein. Der Kapitän lenkt ein, Arbeitsschutz sei schon sinnvoll.
Jörn Hille hört bei seiner Arbeit einiges, was nicht „politisch korrekt“ ist. „Ich will nicht belehren, überzeugen oder Recht behalten. Nur manchmal einen Anstoß geben, das Gesagte zu überdenken“, betont der Diakon. Und wo er schon bei Disclaimern ist: „Auch wenn wir Seemannsmission heißen, missionieren wir nicht. Wir sind für Seeleute unabhängig von Religion und Weltanschauung da.“
Richie Racza bedient sich am vielseitigen Buffet in der Messe (li.). viele Aufkleber verschiedener Seemannsmissionen. (re.) © Asja Caspari
In der Messe sitzen jetzt am späten Vormittag zwei müde Filipinos und löffeln ein Reisgericht. Die Männer arbeiten in einem Schichtsystem: sechs Stunden Dienst, sechs Stunden Freizeit. Bei Richie Racza ist der Schlaf zu kurz gekommen – er zeigt auf sein Smartphone. Das Gespräch mit seiner Frau war nicht spannungsfrei. „Wenn man sich nur über Video sieht, kommt es leicht zu Missverständnissen“, sagt Jörn Hille zu ihm.
Seit sieben Jahren ist der junge Mann „Ordinary Seaman“, eine Position am unteren Ende der Hierarchie. Für eine Beförderung braucht er Empfehlungsschreiben. Jörn Hille ermutigt ihn, bei der Kapitänin, die demnächst an Bord kommt, nachzufragen: „Frag’ sie einfach. Mehr als Nein sagen kann sie nicht.“ Am Ende zieht der Seelsorger noch einen Anti-Stress-Ball aus dem Rucksack und lädt Richie Racza und seinen Kollegen in den Seemannsclub ein.
Mehr als ein Job
Dorthin fährt jetzt auch Jörn Hille und trifft auf Kollegen, die den Club für die Öffnung vorbereiten: Bar, Speiseraum, Karaoke-Zimmer, Billardtische und ruhige Ecken – und alles liebevoll mit marinen Symbolen geschmückt. Eine junge Freiwillige begrüßt den stämmigen Mann mit einer herzlichen Umarmung: „Alles, alles Gute!“ Jörn Hille hat heute Geburtstag!
Es war die Erfahrung von Gemeinschaft, die den 47-Jährigen nach dem Studium von Sozialer Arbeit und Religionspädagogik zur Diakonie und schließlich zur Seemannsmission führte. Wie in anderen sozialen und kirchlichen Berufen achten heute auch Diakone auf ihre Work-Life-Balance, meint Jörn Hille. „Ich bin alte Schule. Mein Handy ist immer an und ich arbeite auch mehr als 40 Stunden. Aber solange ich morgens singend zur Arbeit fahre, bin ich am richtigen Platz.“
Was machen Diakone?
Diakone arbeiten in sozialen Berufsfeldern und verstehen ihr Wirken als praktische Form des christlichen Glaubens. Sie kĂĽmmern sich beispielsweise um Jugendliche, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung.
Wer steht hinter der Deutschen Seemannsmission?
Die Deutsche Seemannsmission ist eine Organisation der evangelischen Kirche. Sie leistet seit über 100 Jahren in aktuell 33 Häfen soziale und seelsorgerliche Hilfe für Seeleute und Hafenarbeiter. In Deutschland hat sie dafür einen gesetzlichen Auftrag und wird teils vom Bund, der evangelischen Kirche, Spenden und Sponsoren finanziert. In den Clubhäusern erwirtschaftet sie außerdem Einnahmen, indem sie zu moderaten Preisen Essen und Waren für den täglichen Bedarf verkauft. Das Team in Hamburg besteht aus 62 Mitarbeitenden und rund 130 Ehrenamtlichen.
Was ist ein Duckdalben?
Ein Duckdalben (oder eine Dalbe) ist ein Pfahl, der in Häfen und Stegen in den Boden eingerammt ist. An ihm machen Boote und Schiffe fest.