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Jedes Gehirn ist anders

Gehirnillustration

Wunderwerk Gehirn: Es besteht aus 86 Milliarden Nervenzellen.

Professor André Frank Zimpel ist Synästhetiker 

Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass Menschen sich vor allem in einem ähnlich sind: darin, dass jeder anders tickt. Weil es nicht zwei Gehirne gibt, die sich gleichen. Eine Perspektive mit weitreichenden Folgen. 

Für Prof. Dr. André Frank Zimpel haben Zahlen und Buchstaben eine Farbe. Als Kind dachte er, das wäre bei allen Menschen so. Und auch, dass alle sich wie er mit bestimmten Wörtern und Rechenaufgaben schwer tun. Ganz einfach, „weil ich die jeweilige Farbzusammensetzung, die sich daraus für mich ergab, als unangenehm empfand“. Heute weiß er, dass es sich um eine Form der Synästhesie handelt, die gerade mal bei einem von 1.000 Menschen auftritt: Mehrere Sinneswahrnehmungen werden verschmolzen und entsprechend unterschiedliche Gehirnregionen gleichzeitig aktiv. André Frank Zimpel kennt also schon aus Selbsterfahrung den typischen Fehler, den die meisten von uns machen: in der Annahme zu leben, dass so, wie man selbst denkt und fühlt, auch die anderen denken und fühlen. Ein Irrtum, der den Professor für Psychologie und Erziehungswissenschaften mittlerweile hauptberuflich beschäftigt. An der Universität von Hamburg leitet er das Zentrum für Neurodiversitätsforschung. 

„Jedes Anderssein sollte sich in dem ihm gemäßen Rahmen entfalten können.“ 

Gehirne sind wie Schneeflocken  

„Neurodivers“ meint, dass die neurobiologischen Unterschiede in unseren Gehirnen in ihrer Vielfalt als „normal“ betrachtet werden. Der Begriff geht auf die australische Soziologin Judy Singer zurück. Sie soll ihn erstmals in ihrer Masterarbeit von 1998 erwähnt haben. Inzwischen hat er sich in der Forschung etabliert. „Wir können mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen, dass Gehirne wie Schneeflocken sind. Es gibt nicht zwei Gehirne, die sich gleichen. Nicht einmal bei eineiigen Zwillingen. Und diese Verschiedenheit untersuchen wir“, so Prof. André Frank Zimpel. Jeder sei besonders und gerade deshalb seien alle „vollkommen richtig im Kopf“. Darin eingeschlossen sind:

  • Autismus, Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche)
  • AD(H)S (Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-) Störung)
  • Autismus-Spektrumsstörung
  • Tourette
  • Dyskalkulie (Rechenstörung)
  • Dyspraxie (Schwierigkeit, Bewegungen und Handlungen zu planen und auszuführen)

Alles hat sein Gutes

All das sind integrale Bestandteile der menschlichen Vielfalt. Arten des Seins. Allerdings solche, die in unserer Gesellschaft kaum angemessene Berücksichtigung und Unterstützung etwa im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt erfahren. Unsere Kultur sei immer noch vor allem auf das eingestellt, was sie für mehrheitsfähig, also für „neurotypisch“ hält, so André Frank Zimpel: „Dadurch entstehen Nachteile und Hilfebedarf. Potenziale werden übersehen.“ Als Synästhetiker könne er sich zum Beispiel Dinge viel leichter einprägen. „Was mir bei meinen Vorlesungen sehr zugutekommt.“ 

Menschen mit Legasthenie hätten häufig viel Fantasie, ein ausgeprägtes bildhaftes Denken, die Gabe, „Schriftliches in lebendig Gesprochenes umzusetzen“. Nicht umsonst gebe es gerade im Schauspielberuf viele Legastheniker, darunter Jennifer Aniston, Orlando Bloom und Keira Knightley. Ihre Stärken gingen lange unter in einem Bildungssystem, das allein auf Schriftsprache setzt und wenig alternative Zugänge bietet. Heutzutage gäbe es zum Glück Unterstützung: „Dank Computertechnik kann man Texte diktieren und Rechtschreibprogramme nutzen.“ 

„Eine Kultur, die auf ‚neurotypisch‘ ausgerichtet ist, verschenkt Potenzial.“

Anderssein braucht Raum

Auch die Potenziale von Menschen mit „Störungen“ aus dem Autismusspektrum werden oft gar nicht abgefragt. Viele Autisten sind durchschnittlich bis überdurchschnittlich begabt. Ihnen werden eine große Konzentrationsfähigkeit, Gründlichkeit und ein gutes Erinnerungsvermögen zugeschrieben. Trotzdem ist – nach Schätzungen – nur ein Drittel auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Auch weil die Koordinaten fehlen, die es braucht, damit sie ihre Stärken entfalten können: eine reizarme Umgebung, Planbarkeit, Struktur und die Möglichkeit, sich in ein Thema zu vertiefen. Menschen aus dem Autismusspektrum sind besonders häufig in der IT-Branche und in technischen Berufen zu finden. 

Herausforderung fürs Bildungssystem

Jedes Anderssein sollte sich in dem ihm gemäßen Raum entfalten können, die jeweilige Förderung und Unterstützung erfahren, um die eigenen Möglichkeiten nach vorne zu bringen. (Das wird sich jedem erschließen, der etwa lärmempfindlich ist und nun in einem Großraumbüro arbeiten soll.) In einem Bildungssystem, das ohnehin schon am Limit ist, ist aber die Idee, wirklich jedem Kind nach seinen besonderen Lernbedürfnissen ein optimales Umfeld, eine individuell angepasste Förderung zu bieten, eine enorme Herausforderung.

Andererseits hat die von John Hattie – einem neuseeländischen Pädagogen – entwickelte, größte Bildungsstudie weltweit gezeigt, dass es nicht etwa Faktoren wie Qualität der Schule oder Sprachmethode sind, die den größten Einfluss auf den Lernerfolg haben. Mit weitem Abstand hat da die „Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus“ gewonnen. Also das Wissen um die eigenen Stärken und Möglichkeiten. Das gilt es zu vermitteln und zu erfahren – zumal in einer Zeit, in der Unternehmen, aber auch die Gesellschaft an sich, auf diese Bandbreite an Fähigkeiten, Perspektiven und Problemlösungskompetenzen nicht länger verzichten können. 

André Frank Zimpel

André Frank Zimpel im Portrait

André Frank Zimpel, Leiter des Zentrums für Neurodiversitätsforschung in Hamburg © Michael Draasch

Der 63-Jährige, in Magdeburg geboren, ist Professor für Erziehungswissenschaft, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut, Sonder- und Diplompädagoge und Fachbuchautor. Er arbeitet als Professor mit dem Schwerpunkt „Lernen und Entwicklung“ an der Universität Hamburg und leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung. 

Kind mit Downsyndrom und der Betreuerin

Kinder mit Downsyndrom können oft mehr, als ihnen zugetraut wird. © gettyimages/Phynart Studio

Trisomie 21: Anders lernen 

„Mathe für alle“ – auch für Kinder mit Trisomie 21. Das ist das Ziel von „mathildr“, einer mittlerweile mehrfach ausgezeichneten Lern-App, die das Team um André Frank Zimpel und den Sonderpädagogen Torben Rieckmann entwickelt hat. Der Hintergrund: Kinder mit Trisomie 21 können nur zwei bis drei Elemente gleichzeitig verarbeiten (bei den meisten Menschen ohne Trisomie sind es vier). Deshalb wird in der App auch mit Zweierbündeln gerechnet, die als Kirschen-Pärchen dargestellt werden. Die Kirschstängel unterstützen die Unterscheidung von geraden und ungeraden Anzahlen. Meint: Bei geraden Zahlen sind immer Kirschpärchen in Rot ausgefüllt. Bei ungeraden bleibt eine der beiden Kirschen blass. „Die App funktioniert ein bisschen wie ein Taschenrechner“, so André Frank Zimpel. „Die Kinder schreiben im Heft, können über die Anwendung aber das Rechenprinzip visualisieren und verstehen.“ Nach längerer Anwendung würde die Verbildlichung von Mengen dann auch unbewusst funktionieren – ebenso wie die so wichtige Selbstgewissheit, auch rechnen zu können.

Die mathildr-Lernmaterialien stellt der gemeinnützige Verein Guter Unterricht für alle e.V. zur Verfügung. Sie können beim Deutschen Down-Syndrom Infocenter und bei insieme21 erworben werden. Mathildr.com 

Autismus: Neurodiversität am Arbeitsplatz 

„Autism at Work“ heißt das Programm von SAP, das der deutsche Softwarekonzern 2013 startete. Es wendet sich in mittlerweile 16 Ländern gezielt an Menschen aus dem autistischen Spektrum. Ob eine passende Stelle für diese verfügbar ist, prüft die Personalabteilung nach einem unverbindlichen Kennenlernen. Manchmal werden auch Stellen gefunden, die noch nicht offen sind, aber den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Bewerber entsprechen. Erhält ein Bewerber ein Angebot zum Vorstellungsgespräch, wird er auch hier unterstützt. Wenn es passt, stellt SAP die Kandidatin oder den Kandidaten fest ein. Es wird gemeinsam ein Unterstützungskreis aufgebaut und der neuen Kollegin oder dem neuen Kollegen jeweils eine persönliche Begleitung zur Seite gestellt. Mehr als 200 neue Beschäftigte aus dem autistischen Spektrum, die über alle Vorstandsbereiche verteilt arbeiten, wurden so weltweit bei SAP ins Unternehmen geholt.