Immaterielles Weltkulturerbe feiert die Alltagskultur

Von Hip-Hop bis Hebamme: Beides gehört zum Immateriellen Kulturerbe © gettyimages/Cavan Images, gettyimages/Ryan McVay
Seit 2023 dabei: das Hebammenwesen
Im Dezember 2023 hat die UNESCO das „Hebammenwesen“ in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. „Für die Bewerbung haben sich erstmals Länder verschiedener Kontinente zusammengeschlossen, darunter Deutschland, Kolumbien und Nigeria“, unterstreicht Christoph Wulf. Den Bewerbungsfilm unterstützte dm mit 10.000 Euro. Seit vielen Jahren setzt sich dm für die Hebammen ein und kooperiert mit dem Deutschen Hebammenverband.
Ein Interview mit Christoph Wulf
Spektakuläre, historisch bedeutende Bauten zeichnet die UNESCO als „Weltkulturerbe“ aus. Seit rund 20 Jahren gibt es auch das „Immaterielle Kulturerbe“. Klingt sperrig, hat aber mit jedem von uns zu tun. Denn dieses Erbe feiert die Alltagskultur.
Was ist immaterielles Kulturerbe eigentlich?
Es lässt sich nicht an Orten und Gegenständen festmachen. Es lebt allein durch die Menschen, die Kulturformen teilen und über Generationen weitergeben. Zu ihm gehören beispielsweise in Deutschland:
- Musik und darstellende Künste
Chormusik in deutschen Amateurtheatern, Poetry-Slam, Hip-Hop-Kultur in Heidelberg und ihre Vernetzung - Bräuche und Feste
Passionsspiele Oberammergau, Malchower Volksfest, Tölzer Leonhardifahrt - Traditionelle Handwerkstechniken
Deutsche Brotkultur, Blaudruck, Flößerei - Wissen und Bräuche mit Bezug zu Natur und Universum
Falknerei, Knickpflege in Schleswig-Holstein, klassische Reitlehre in Deutschland - Leben in Gemeinschaft
Deutsche Gebärdensprache, Ostfriesische Teekultur, Skat spielen
alverde: Wie kam es dazu, dass die UNESCO 2003 den Titel „Immaterielles Kulturerbe“ ins Leben rief?
Christoph Wulf: Der Impuls kam aus den Ländern des Globalen Südens, die sagten: „Wir haben vielleicht nicht so viele alte Bauten wie in Europa, aber wir haben unsere Tänze, Feste und andere Ausdrucksformen der kulturellen Gestaltung.“ Mittlerweile haben auch die Länder im Globalen Norden erkannt, welchen Schatz die Alltagskultur darstellt. Kultur, das war früher das, was man auf der Bühne gesehen oder in Museen betrachtet hat. Tatsächlich produzieren aber alle Menschen Kultur: durch Aktivitäten, die sie mit anderen Menschen teilen, die Identität stiften und generationenübergreifend gelebt werden. Dafür gibt es jetzt ein Bewusstsein. Ich denke beispielsweise an die Auszeichnung für die Flößerei. Bei der Zeremonie waren mehr als 100 Menschen dabei, die sich stark mit dieser Transporttechnik und ihrer Gemeinschaft identifiziert haben. Das war sehr bewegend.
Die Definition des immateriellen Kulturerbes ist sehr umfassend. Wie treffen Sie eine Auswahl?
Christoph Wulf: Wir haben uns in Deutschland für einen Prozess „von unten“ entschieden. Das heißt, die Vorschläge kommen von den Vertretern der kulturellen Praktiken selbst und werden dann durch die Bundesländer, die Kultusministerkonferenz und ein Fachkomitee der UNESCO-Kommission begutachtet. In Japan oder Frankreich beispielsweise legen Ministerien die Titelträger fest. Die weite Definition ermöglicht auch, die Vielfalt der kulturellen Traditionen zu würdigen.
Was bewirkt der Eintrag als Kulturerbe?
Christoph Wulf: Die Auszeichnung will ja weder konservieren noch kommerzialisieren. Das stimmt, die kulturellen Praktiken sollen nicht zu einer Attraktion werden – das „Oktoberfest“ beispielsweise wäre kein Kandidat fürs Kulturerbe, weil es zu kommerziell ist. Aber die Praktiken sollen auch nicht eingefroren werden, sondern die Menschen sollen die Freiheit haben, sie weiterzuentwickeln. Es ist vor allem eine Anerkennung und Ermutigung, die Kultur weiterhin zu leben. Gerade für Traditionen, die bedroht sind, kann das ein Anschub sein.
Christoph Wulf
Christoph Wulf ist Vize-Präsident der UNESCO-Kommission und Professor für Anthropologie und Erziehungswissenschaft an der FU Berlin
Christoph Wulf im Portrait