Barrierefrei bauen

Sichtbare und unsichtbare Hindernisse abzubauen ist eine Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe aller. ¹⁾
Vom inklusiven Bauen profitieren viele
Barrierefreiheit ist eine Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe aller. Inklusiv bauen heißt deshalb auch klüger bauen. Was es dafür wirklich braucht, daran wird emsig geforscht. Das Ziel: Neben den sichtbaren auch die unsichtbaren Hindernisse abzubauen und damit auch unser Denken zu verändern.
„Hinkommen, reinkommen, klarkommen!“ – so lautet die Kurzformel für Barrierefreiheit. Und das nicht ausnahmsweise, sondern ausnahmslos für alle. Ganz so, wie es die UN-Behindertenkonvention fordert, die seit 2009 in Deutschland in Kraft ist. Jedem Menschen sollen demnach alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens zugänglich sein.
Klingt so, als wäre das mit Rampen, barrierefreien Fahrstühlen und Toiletten gemacht. Aber nicht jeder Mensch mit Behinderung sitzt im Rollstuhl. Deshalb bedeutet inklusives Bauen immer auch, die Vielfalt der Bedürfnisse zu berücksichtigen. Welche das sind und wie man sie umsetzt, daran forscht unter anderen auch Kathrin Gerling, Professorin für Mensch-Maschine-Interaktion und Barrierefreiheit am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie tut das gemeinsam auch mit Menschen mit Behinderung im Kontext neuer Technologien. Schließlich sind sie auch im inklusiven Bauen die eigentlichen Experten und sollen deshalb „auch in aktiver Rolle forschen können“. Etwa an Leitsystemen, mit deren Hilfe sich blinde Menschen im öffentlichen Raum orientieren können, oder an virtuellen Karten, speziell für verschiedene Behinderungen konzipiert, mit denen man unbekannte Orte schon mal vorab online erkunden kann.

Mehr als Rollstuhl-Rampen – Barrierefreiheit schließt möglichst viele Bedürfnisse ein. ²⁾
Perspektivwechsel
„Wir forschen aus einer Perspektive der Gerechtigkeit“, sagt Kathrin Gerling und „uns geht es darum, Dinge zu tun, die für Menschen wirklich nützlich sind, und uns auch immer wieder zu fragen, was dabei jeweils der Benefit für die Gesellschaft ist“. Oft zeigt sich, dass das, was eigentlich für eine bestimmte Gruppe gedacht ist, vielen zugutekommt. Gutes Licht etwa bietet nicht nur Orientierung für Sehbehinderte, sondern mindert für alle die Sturzgefahr.
Eine Rampe ist nicht nur für Menschen im Rollstuhl praktisch, sondern auch für Mütter mit Kinderwagen. Ein Raum der Ruhe in öffentlichen Gebäuden, wie er am KIT auch gerade erprobt wird, schützt nicht nur Autisten vor Reizüberflutung, sondern auch Hochsensible. Wer barrierefrei baut, baut zudem auch nachhaltig. Inklusive Architektur ermöglicht auch alten Menschen mit ihren unterschiedlichen Beeinträchtigungen, möglichst lange selbstbestimmt zu leben.
Am Ende günstiger
Und spätestens hier handelt es sich nicht um eine Minderheit: 20 Millionen Menschen hierzulande werden 2035 über 67 Jahre alt sein. „Wenn man darüber nachdenkt, gehört eigentlich jeder irgendwann zu einer Gruppe mit bestimmten Bedürfnissen, für die man spezielle Vorkehrungen treffen sollte“, so Kathrin Gerling. Wo Architektur für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Lebensentwürfe ermöglicht, werden dann nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Hürden abgebaut.
Ganz einfach durch die Erfahrung, dass es niemandem schlechter, aber allen besser geht, wenn im Sozialraum die Vielfalt mitgedacht ist. Und entgegen anderslautenden Befürchtungen wird es nicht viel teurer. So rechnet „Aktion Mensch“ vor, dass sich die Mehrkosten auf höchstens 0,83 Prozent pro Quadratmeter Wohnfläche belaufen.* Bedenkt man den gesellschaftlichen Gewinn, ist es sogar sehr viel günstiger. Am Ende stärkt Barrierefreiheit ja nicht nur die Teilhabe Einzelner, sondern auch die Gesellschaft. Weil damit – so Kathrin Gerling – immerhin der Nachweis geführt wird, dass „wir uns umeinander kümmern“.
Teure Sonderanfertigungen für kleine Gruppen? Mitnichten: Vom inklusiven Bauen profitieren viele in einer älter werdenden Gesellschaft, und die Kosten halten sich im Rahmen.
Rund 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind aktuell im Alltag zwingend auf Barrierefreiheit angewiesen. Früher oder später werden es schätzungsweise 25 Prozent sein.*