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Herausforderungen des Klimawandels

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© gettyimage/Frank Lee

Interview mit Ökologin Carola Rackete und Wirtschaftssoziologe Stefan Brunnhuber

Unter dem Klimawandel leiden besonders Länder und Menschen, die am wenigsten zu ihm beigetragen haben. Wie viel Umverteilung und Umgestaltung ist möglich? Darüber diskutieren die Ökologin Carola Rackete und der Psychiater und Wirtschaftssoziologe Stefan Brunnhuber.

alverde: Die Industrialisierung war Europas Weg aus der Armut. Welchen Preis der CO₂-Ausstoß für Klima und Umwelt hatte, wurde erst gut 200 Jahre später klar. Wie weit würden Sie uns Nachfahren in die Verantwortung nehmen?

CAROLA RACKETE
: Die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung ist für viele Menschen sehr abstrakt. Ich mache es mal konkret am Beispiel LNG-Gas, für das wir die Versorgungs-Infrastruktur gerade massiv ausbauen. In Deutschland, Frankreich und anderswo in Europa gab es viele Bürgerinitiativen, die sich erfolgreich gegen Bohrungen eingesetzt haben. Aber gleichzeitig will Olaf Scholz Lieferverträge mit Argentinien ausbauen. Ich war dort letztes Jahr in Vaca Muerta, dem zweitgrößten Schiefergasgebiet der Welt. Dort können die Menschen Wasser nicht mehr aus dem Hahn trinken und die Leukämieraten sind stark angestiegen. Ich kann doch Umweltverschmutzungen, die ich vor meiner Haustür ablehne, nicht in anderen Ländern unterstützen.

alverde: Was fordern Sie?

CAROLA RACKETE
: Einen globalen Schuldenerlass. Der Grund, warum etwa Argentinien fossile Energien so stark fördert, ist die internationale Verschuldung, die Leute machen es nicht für den Eigenbedarf. Von der Schuldenlast befreit, könnte ein Land wie Argentinien in Windkraft und Solarenergie investieren – die natürlichen Kapazitäten dafür wären da. Und was zukünftig auch immer dringlicher wird, ist Reisefreiheit für die Menschen, die wegen der Klimakrise in ihren Ländern keine wirtschaftliche Existenz und oft auch keine Lebensgrundlage haben werden. Die meisten werden innerhalb ihres Landes migrieren oder in Nachbarstaaten auswandern müssen. Die Klimakrise muss als Fluchtgrund anerkannt werden.

alverde: Sehen Sie einen Schuldenschnitt auch als Lösung, Herr Brunnhuber

STEFAN BRUNNHUBER
: Grundsätzlich ja. Aber der Teufel steckt im Detail. Schulden, die ein Land gegenüber einer öffentlichen Entwicklungsbank hat, lassen sich leicht erlassen. Aber manche Schulden bestehen auch gegenüber dem privaten Sektor oder gegenüber Ländern wie China, bei denen fraglich ist, ob sie sich darauf einlassen. Das Finanzsystem ist aber tatsächlich der Schlüssel zur Umgestaltung unserer Wirtschaft. Die wichtigste Maßnahme wäre eine angepasste expansive Geldpolitik zugunsten der Finanzierung von Nachhaltigkeit – und die Zentralbanken können diesen Schritt gehen.

alverde: Wie in etwa funktioniert das?

STEFAN BRUNNHUBER
: Die sieben großen Zentralbanken der Welt, zu denen die europäische, US-amerikanische und chinesische zählen, können Geld aus sich selbst schöpfen, ohne dass sie Schulden gegenüber Dritten machen. Das ist während der Finanzkrise und der Coronapandemie geschehen. Die Geldmittel, die dadurch entstehen, sollten sie dann nicht nur, aber vor allem über Entwicklungsbanken dem Globalen Süden zur Verfügung stellen.

alverde: Neben dem Schuldenschnitt ist eine weitere Forderung in der Gerechtigkeitsdebatte, extremen Reichtum stärker zu besteuern – um damit einen Lebensstil einzuschränken, der äußerst klimaschädlich ist. Aber wo zieht man die Grenze und besteht die Gefahr, die freie Marktwirtschaft an sich zu beschädigen?

STEFAN BRUNNHUBER
: Selbst, wenn es uns gelänge, eine solche Steuer global zu erheben, wäre der Betrag viel zu gering, um die notwendigen Transformationen zu finanzieren. Sie würde auch nichts am klimaschädlichen Verhalten der oberen 1.000 ändern. Für die CO₂-Belastung ist damit also nichts gewonnen. Und wenn wir grundsätzlich über das Thema Gerechtigkeit nachdenken, möchte ich zwei Formen von Ungleichheiten einführen: Das eine sind Mindeststandards nach unten. Die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Zugang zu Bildung und zum Gesundheitswesen dürfen wir auf keinen Fall unterschreiten. Nach oben hin darf es aber sehr wohl auch größere Differenzen geben. Ob man ab einem Einkommen oder Vermögen einen Schnitt macht, kann man verhandeln. Aber ich halte das für eine akademische Frage, die uns in der konkreten Klimagerechtigkeit nicht sehr viel weiterbringt.

CAROLA RACKETE: Ich halte die Begrenzung von Milliarden-Vermögen nicht für eine akademische Frage, sondern eine von Gerechtigkeit und Demokratie. Aber ja, wir müssen uns fragen: Warum scheitert fast jede Form der Umverteilung in der Praxis? Meine Antwort ist: Weil wir einen Demokratiemangel haben. Wer hat denn die Zeit, Kontakte und Geld, um Einfluss auf Politik zu nehmen? Das Problem zeigt sich auch bei der Umwelt: Der Lobbyismus verwässert die Umweltgesetzgebung in der EU erheblich. Dazu kommt, dass ein Teil der Bevölkerung von Wahlen ausgeschlossen ist, in Deutschland sind das Menschen ohne deutschen Pass und Kinder. Neben Parlamenten sollte es daher alternative Institutionen geben. In Frankreich zum Beispiel hat ein Bürgerrat effektive Sofortmaßnahmen zur Klimapolitik gemacht wie Kurzstreckenflüge zu verbieten – im Parlament wurde das aber nicht umgesetzt. Das zeigt, dass durchschnittliche Bürger viel gemeinwohlorientierter entscheiden als Parlamente – deshalb sollten sie auch tatsächlich Einfluss auf die Politik nehmen.

alverde: Andererseits stoßen Klimaschutzmaßnahmen, die Einzelnen etwas abverlangen, doch regelmäßig auf viel Widerstand, Stichwort Heizungsgesetz …

CAROLA RACKETE
: Das lag daran, dass dieses Gesetz eben nicht sozial eingebettet war. Es muss klar sein, dass es einen Ausgleich gibt. Den Großteil der Kosten für die Transformation sollen die Konzerne tragen, die die Klimakrise verursacht haben. Und die Bürger mit den größten finanziellen Möglichkeiten, sollten ebenfalls mehr zahlen.

STEFAN BRUNNHUBER: So einfach kann man es sich mit der Zuschreibung der Verantwortung nicht machen. Es gibt drei Verursacher: die Firmen, die fossile Energie aus der Erde holen, die Unternehmen, die daraus Produkte herstellen, und wir Verbraucher, die wir die Produkte kaufen. Wir brauchen deshalb Lösungen, die alle drei Parteien integrieren. Und beim Thema Umverteilung zeigen Umfragen in westlichen Ländern, dass die Auseinandersetzungen eher horizontal als vertikal stattfinden. Das bedeutet, als Beispiel, der prekär beschäftigte Arbeiter empfindet den arbeitslosen Bürgergeldempfänger oder den Geflüchteten als Konkurrenz und stellt keine Ansprüche gegenüber der Mittel- und Oberschicht. Auch die unteren Einkommensempfänger befürworten im Grunde das liberale Modell der Anreize und Leistungsgerechtigkeit.

alverde: Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber hat vorgeschlagen, dass jedem Menschen jährlich drei Tonnen CO₂-Emissionen zustehen und jede weitere Tonne kostenpflichtig ist. Wäre das ein gerechtes Prinzip? Und wie vermeidet man, dass Menschen in Industrieländern dadurch zu stark belastet werden?

STEFAN BRUNNHUBER
: Für die Umsetzung des Vorschlags wäre die Mittelschicht, also zwei Drittel unserer Bevölkerung, gezwungen, ihr Verhalten massiv zu ändern. Da wären wir bei der Frage, was ist privat und was muss der Staat leisten? Und da komme ich wieder zu meinem Punkt am Anfang: Solche umfangreichen Transformationen sind nicht im üblichen Haushaltsrahmen zu bewältigen, sondern brauchen eine andere Geldpolitik.

CAROLA RACKETE: Es ist auf jeden Fall notwendig, bei den biophysikalischen Gegebenheiten anzusetzen und durchzurechnen, was bei acht Milliarden Menschen überhaupt möglich ist. Finanzielle Ressourcen und CO₂-Ausstoß sind eng gekoppelt, auch in Deutschland: Das reichste ein Prozent emittiert 83,3 Tonnen CO₂, dort muss man zuerst reduzieren. Menschen im unteren Einkommensbereich haben einen Fußabdruck von 5,4 Tonnen. Damit müssten sie bei diesem Vorschlag zwar momentan zuzahlen. Aber die CO₂-Bilanz beruht nicht nur auf individuellem Verbrauch. Ich bin optimistisch, dass Menschen durch die klimafreundliche Sanierung der öffentlichen Infrastruktur auch in Industrieländern auf drei Tonnen CO₂ kommen können – und trotzdem noch ein angemessen gutes Leben führen können.

PROF. DR. DR. STEFAN BRUNNHUBER
Vollmitglied im Club of Rome, Ärztlicher Direktor der Diakonie Klinik in Sachsen. Der gelernte Kfz-Mechaniker studierte Medizin, Philosophie und Wirtschaftssoziologie. Als liberaler Denker und Autor beschäftigt er sich aus interdisziplinärer Perspektive mit Nachhaltigkeit, Transformationsprozessen und Finanzökonomie. 

„Die wichtigste Maßnahme wäre eine angepasste expansive Geldpolitik zugunsten der Finanzierung von Nachhaltigkeit.“

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CAROLA RACKETE
Ökologin. Sie arbeitete als Nautiker auf Polarforschungsschiffen und hat einen Master in Naturschutzmanagement. Als Kapitän legte sie 2019 gegen Behördenanweisung mit einem Seenotrettungsschiff in Lampedusa an. Für die Europawahl tritt die Parteilose als Spitzenkandidatin der Linken an.

„Ich bin optimistisch, dass Menschen durch die klimafreundliche Sanierung der öffentlichen Infrastruktur auch in Industrieländern auf drei Tonnen CO₂ kommen können.“

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