Ärzte-Sprache verstehen

Eckart von Hirschhausen studierte erst Medizin und machte dann 30 Jahre lang Kabarett. Wie ernst die Kolumne gemeint ist, entscheiden Sie. © Dominik Butzmann
Kolumne von Eckart von Hirschhausen über sprechende Medizin
Liebe alverde-Lesende,
in dieser Ausgabe geht es viel um die Kraft von Sprache, Dinge verständlich zu machen – oder eben gerade nicht. Davon kann ich ein Lied singen, aber das hören Sie nur, wenn Sie meine Kolumne als Video erleben – was auf dm.de/alverde-magazin möglich ist. Schauen Sie mal rein, da finden Sie auch all die Texte zu „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“. Aber heute möchte ich Ihnen ein Geheimnis verraten, wieso sich ein Arzt oder eine Ärztin bisweilen so seltsam ausdrückt. Dahinter steckt Prinzip. Und eine lange Ausbildung.
Wie genau verläuft die Arztwerdung des Menschen?
Was passiert da mit den jungen und meist idealistischen frischgebackenen Studienplatzinhabern, dass ihre Ideale innerhalb der sechs Jahre Ausbildung weg von Woodstock und Birkenstock hin zu Rodenstock und Armani wandern? Das Erste, was ein Medizinstudent lernt, ist das Fach Terminologie. Offensichtlich das Wichtigste, die Schlüsselqualifikation für alles Weitere: sich systematisch unverständlich ausdrücken können. Für alles bis dahin gut auf Deutsch zu Erklärende, gibt es plötzlich ein griechisches und ein lateinisches Fremdwort. Das macht viel Sinn, denn ist der Arzt mit seinem Latein am Ende, kann er immerhin noch auf Griechisch weitermachen. Die Studenten lernen 32.000 neue Wörter aus zwei Sprachen, um dem Wunder des Lebens näher zu kommen. Und um sich mit anderen Eingeweihten unterhalten zu können, in Gegenwart von Menschen, die nicht wissen sollen, was mit ihnen los ist.
Was will der Arzt mir damit sagen?
„Essenzielle, vegetative, idiopathische, funktionelle Dystonie“. Was will der Dichter uns damit sagen? Das sind die ungedeckten Blankoschecks der diagnostischen Vernebelung oder noch deutlicher: Jedes einzelne dieser Wörter steht für: „keine Ahnung, was da los ist“.
Vegetativ: Das heißt – wird wohl irgendwie mit dem Nervensystem zusammenhängen, und das hat in der Medizin eh eine Außenseiterposition.
Funktionell: Das heißt – irgendwie funktioniert der Patient nicht so richtig, aber ich kann es mit keinem Messwert belegen. Funktionelle Herzbeschwerden bedeutet: sich krank fühlen bei unauffälligem EKG-Befund. Ist irgendetwas aus dem Gleichgewicht, eine Dissonanz der Körperspannungen: Dystonie. Irgendwie klingt „ist nicht im Gleichgewicht“ vom Doktor auf Griechisch weitaus professioneller, als wenn die gleichen Worte ein Feng-Shui-Meister spricht.
Zu guter Letzt: „idio-pathisch“ kommt von Krankheit (Pathos) und idiotisch, mit anderen Worten, eine idiotische Geschichte, also nix, was ich so kenne. Idiopathisch darf man nicht mit „iatro-gen“ verwechseln. Da weiß man genau, woher es kommt. Iatros der Arzt. Vom Arzt generiert, ein vornehmes Wort für Kunstfehler.
Lateinische und griechische Bezeichnungen in der Medizinsprache
Ein weiteres praktisches Beispiel: Rektum. Der letzte Teil des Verdauungskanals. Untersucht zur Früherkennung von Prostataveränderungen. Die sind sehr häufig. Gerade bei Männern. Und deshalb gehen die auch nicht zur Vorsorge. Viele wären interessiert, wenn sie wüssten, das Verfahren nennt sich „digitale Untersuchung“. Da denkt der Mann erst mal an Computer, Hitech, und erwartet so etwas wie seine heimische Digitalkamera. Digitus verspricht aber nichts weiter als: der Finger. So verwirrt die Terminologie bisweilen. In dieser Region des Körpers erwartet man nicht digital – wenn überhaupt, dann analog. Die Abkürzung für die aufseiten des Patienten wie des Arztes wenig geschätzte Prozedur lautet p. r. – für per rectum.
In der Fachsprache steckt auch eine versteckte Poesie. Schizophren bedeutet wörtlich: gespaltenes Zwerchfell. Aristoteles vermutete die Seele noch im Zwerchfell, dort, wo Atmung auf Verdauung, Lunge auf Darm, Geist auf Materie trifft, dort, wo beim Lachen die Seele auf den beiden Kuppeln des Zwerchfells Trampolin springt. Für die alten Griechen war das Gehirn nur ein Apparat, um das Blut zu kühlen. Wie wir heute wissen, haben sie bei vielen damit recht behalten.
So sehr sich die Patienten aufregen, wenn der Arzt sich nicht verständlich machen kann, so gerne verwenden sie ihrerseits dann die Terminologie gegen Dritte. Unvergessen der Patient der Inneren Medizin, der wegen unklarer Beschwerden eine Woche lang stationär abgeklärt wurde. Auf dem Gang sprach er den Arzt an und sagte: „Doktor, mal ganz ehrlich, was ist mit mir los?“ Darauf der Arzt: „Wirklich ehrlich? Sie sind kerngesund, einfach nur ein fauler Sack.“ Der Patient: „Ich habe seit Wochen gefürchtet, dass es so was sein könnte. Aber hätten Sie es noch mal für mich auf Latein, dann kann ich es auch meiner Frau erklären.“
Ihr
Eckart von Hirschhausen
