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Wir sind alle anders im Kopf

Foto von mehreren Menschen

Wir sind alle unterschiedlich - nicht mal die Gehirne von eineiigen Zwillingen gleichen sich. ¹⁾

Kolumne von Eckart von Hirschhausen über Neurodiversität

Liebe alverde-Lesende, 

hier geht es jetzt um das Prinzip der Diversität in der Gesellschaft, in der Natur und jetzt konkret und persönlich: auch im Kopf. Vielleicht haben Sie die ARD-Doku „Hirschhausen und ADHS“ gesehen, die eine enorme Welle an Reaktionen und Downloads in der Mediathek auslöste. Darin oute ich mich als Fan der Neurodiversität – also der Idee, dass wir in der Medizin viel zu lange in der Kategorie „normal“ oder „verrückt“, „gesund“ oder „krank“ gedacht haben. Und dass wir heute sehr viel differenzierter auf die Bandbreite von Arten schauen, diese Welt zu erleben und manchmal auch zu erleiden.

Vor 30 Jahren habe ich als Arzt in der Kinderpsychiatrie ADHS behandelt. Damals dachte man: Das „Zappelphilipp-Syndrom“ betrifft hauptsächlich Jungs – und es wächst sich aus. Beides falsch. ADHS betrifft ebenso Mädchen und Frauen. Wer als Kind betroffen war, hat meist auch Probleme als Erwachsener. 

Ich bin einer davon. Und in „bester Gesellschaft“ von Marie Nasemann, Justin Bieber, Emma Watson, Jennifer Lopez und Ryan Gosling. Ich finde es großartig, dass heute viel mehr Prominente sich zum Thema „seelische Gesundheit“ äußern, denn damit wird es selbstverständlicher für alle. Seit ich darüber spreche, sagt mir jeder: „Ich kenne jemanden“, oder „In meiner Familie ist das schon lange unterschwellig Thema“ oder einfach nur: „Willkommen im Club“. In Deutschland kommt man auf geschätzte zwei Millionen ADHS-betroffene Erwachsene. Wissen die das alle schon? Nee. 

ADHS hat auch positive Seiten

Gerade unter Komikern ist ADHS verbreitet, vielleicht sogar Berufsvoraussetzung. Felix Lobrecht hat sich geoutet, Till Reiners macht Stand-up darüber. Kein Wunder, denn gelockerte Assoziativität, schnell Dinge verbinden und alles auf den Kopf stellen, kann sehr unterhaltsam sein. Hinter den Kulissen ist es oft anders. Aber diese Fähigkeit prägt auch diese Kolumne, denn „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“ ist eine Kombination, die lange weder in der Medizin noch in der Klimawissenschaft gemacht wurde – und zu deren Verbreitung meine „Umtriebigkeit“ hoffentlich beiträgt.

Deshalb mag ich das Konzept der „Neurodiversität“. „Neurodivers“ akzeptiert unterschiedliche Fähigkeiten und Lebensentwürfe, ohne sofort zu urteilen, baut Brücken statt Schubladen. Ideen kommen in mein Hirn, ohne anzuklopfen. Ungebeten. Drängeln sich vor. Sind einfach da. ADHS ist wie eine Suchmaschine im Dauerlauf, die ständig mehr Ergebnisse liefert, als man gerade braucht. Entsprechend viele Tabs bleiben offen, Zeug bleibt liegen, Leute sind sauer. Und du selbst über dich auch. 

„Neurodivers akzeptiert unterschiedliche Fähigkeiten und Lebensentwürfe, ohne sofort zu urteilen.“ 

Ich habe auf der Bühne die größten Lacher gehabt, wenn ich von meinen eigenen Macken erzählt habe. Sieht jemand mein Arbeitszimmer, kommt oft: „Eckart, ich wusste gar nicht, dass du ein Messie bist.“ Meine Antwort: „Ich bin kein Messie – ich bin ein Sammler ohne festgelegtes Themengebiet.“ 

So anders ist ADHS bei Frauen

Frauen neigen dazu, ihre Symptome zu verbergen, die Unruhe wendet sich nach innen, nicht nach außen. Gleichzeitig haben sie ein höheres Risiko für begleitende Angststörungen, Depressionen, Übergewicht. Unerkanntes ADHS bedeutet ein hohes Risiko für Unfälle, Schul- und Ausbildungsabbrüche, Trennungen, Substanzabhängigkeit und Haftstrafen. Es fehlt an Früherkennung, Grundwissen und Anlaufstellen. Das ist tragisch für jeden Einzelnen, und auch sehr teuer für uns als Gesellschaft. Vorurteile abzubauen sorgt dafür, dass Betroffene Hilfe suchen und bekommen. 

Und jeder ist anders. Wie öde wäre es, wenn wir alle alles auf die gleiche Art sehen würden. Wer Hilfe braucht, soll sie unbedingt bekommen. Und gleichzeitig: Gut, dass wir neurodivers sind. Wie langweilig wäre diese Welt ohne diejenigen, die ein bisschen bunter sind im Kopf. 

Ihr
Eckart von Hirschhausen