Lebensgeschichte Obdachlosigkeit

„Den meisten siehst Du die Obdachlosigkeit nicht an.“ © Andreas Müller
Zwei Flaschen sind ein Brötchen
Sieben Jahre hat er auf den Straßen von Berlin gelebt. Jetzt arbeitet Klaus Seilwinder für den Verein „querstadtein“ und zeigt Touristen und allen Interessierten, wie sich Obdachlose in der Hauptstadt durchschlagen.
Klaus Seilwinder lehnt sich an einen orangefarbenen Müllbehälter. Der 67-Jährige mit dem roten Parka will an dieser Straßenkreuzung in Berlin Mitte etwas erzählen: Hier, rund um den Spittelmarkt, war sein Kiez, hier war er sieben Jahre „auf Platte“ – obdachlos. Hier hat er zwischen 2002 und 2009 geschlafen, gegessen, getrunken, gelebt. Von den Pfandflaschen, die andere achtlos in dem Müllbehälter entsorgten, bestritt er seinen Lebensunterhalt. „Zwei Flaschen – das war damals für mich ein Brötchen“, sagt der Mann, dessen Jeans um die dünnen Beine schlackert.
Eine zweite Chance für Obdachlose
Heute verdient er sich bei „querstadtein“ etwas zu seiner Rente hinzu. Für den Berliner Verein führt der ehemalige Obdachlose Interessierte durch die Straßen, die mal sein Zuhause waren. Er erzählt: „Ich bin in der DDR aufgewachsen, habe sogar mein Fachabi gemacht, arbeitete in einer LPG.“ Als die Landwirtschaftliche Genossenschaft nach der Wiedervereinigung aufgelöst wird, schlägt er sich als Erntehelfer in Brandenburg durch, verkracht sich mit einem der Bauern, der ihn bezahlt. „Da war ich nicht nur meinen Job, sondern auch meine Unterkunft los.“ Irgendwann landet er am Bahnhof Zoo in Berlin und bei den „Suffköppen“. „Denn ein Alkoholproblem hatte ich damals auch“, gesteht der schmächtige Mann.
60.000 bis 80.000 Obdachlose leben derzeit auf den Straßen Deutschlands. 6.000 bis 10.000 allein in Berlin. Fast 80 Prozent sind Männer, 20 Prozent Jugendliche. Ohne feste Adresse gab es bislang keine Sozialleistungen vom Staat. Das hat das Bundessozialgericht in Kassel jetzt geändert.
Der harte Überlebenskampf auf der Straße
Seine Bleibe verliert Klaus Seilwinder, seinen Stolz nicht: Er bettelt nicht, sondern sammelt Pfandflaschen, die er gegen Geld eintauscht. Um seine Wäsche zu waschen, fährt er in den Norden Berlins, wo ein Kloster das für Obdachlose anbietet. Er geht in öffentliche Toiletten, um sich zu rasieren. Einmal wird er von Neonazis so brutal zusammengeschlagen, dass er in die Berliner Charité eingeliefert werden muss.
Zum Schlafen sucht er immer den Spielplatz am Auswärtigen Amt auf. Er zeigt auf ein offenes Holzhäuschen auf Pfählen: „Das war meine Piratenburg. Ich hab darauf geachtet, dass ich rechtzeitig aufwachte und verschwand, bevor die Kindergartenkinder kamen.“
Klaus Seilwinder hat Glück: Eines Tages verschläft er und wird von einem kleinen Mädchen überrascht. Seine Familie hat den Obdachlosen schon lange im Blick. Zuerst bekommt er ein Frühstück, später wird er regelmäßig zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen. Man macht ihm Mut, unterstützt ihn. Es gibt noch andere Menschen, die ihm helfen. Er findet einen Platz in einem Haus für alkoholkranke, nicht arbeitsfähige Männer, macht einen Entzug und landet schließlich bei „Anders leben“ – einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker – und wieder im bürgerlichen Leben.
„Den meisten siehst Du die Obdachlosigkeit nicht an“, sagt der heute trockene Alkoholiker zu den Schülern einer 12. Klasse eines Stuttgarter Gymnasiums, denen er in zwei Stunden einen Einblick in sein damaliges Leben auf der Straße gibt. „Das hat mich damals immer ein bisschen aufgebaut, wenn ich freundlich angesprochen wurde.“
Der 2013 gegründete Berliner Verein gibt ehemaligen Obdachlosen und Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung die Chance, ihr Leben auf der Straße oder in ihrem Kiez auf einer Tour durch Berlin zu zeigen.
Entdecken Sie hier weitere Führungen: querstadtein.org