Neuland im Klassenzimmer

Teamwork erwünscht: Wer was besser weiß, hilft jenen, die noch nicht so weit sind. © Mike Abmaier
An der Hardtschule liegt der Fokus auf Selbstständigkeit und individueller Förderung
Keine Klassenarbeiten und keine Noten – dafür maximale Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und individuelle Förderung – in der Hardtschule in Durmersheim in Baden-Württemberg ist vieles ganz anders als in konventionellen Schulen. Das trägt nicht nur zur Freude, sondern auch sehr viel zum Lernerfolg der Schüler bei. Das Prinzip, das hinter all der Freiheit steht: unternehmerisches Denken.
Hört man Gabriel Schmitt zu, fühlt man sich, als hätte man sich in ein Manager-Seminar verirrt. Der Siebtklässler erzählt souverän von den „Jobs“, die er heute schon erledigt hat. Er referiert über „Kompetenz-Checks“, „Handout“, „Learnscape“ und „Exekutive Funktionen“. Wie eine Führungskraft im Werden und nicht wie ein Zwölfjähriger, der der alverde-Autorin in seinem Klassenzimmer – das hier „Lernatelier“ heißt – gerade einen Überblick über seinen Schulalltag gibt. Tatsächlich sind hier in der Hardtschule in Durmersheim Ähnlichkeiten mit unternehmerischem Denken und Organisieren nicht zufällig. Schon weil die Kinder und Jugendlichen der Klassen 1 bis 10 nicht nur Lernende, sondern immer auch Mit-Entscheidungsträger und -gestalter sind. Und dabei erfahren, dass Lernen – vielleicht nicht immer, aber überwiegend – Spaß machen kann, so die Erkenntnis von Gabriel.
„Gemeinschaftsschule“ nennt sich das Modell, das Schulleiter Volker Arntz in Durmersheim etabliert hat. Sie ist eine von 319 ihrer Art in Deutschland.
Bedürfnisorientiert
Alle Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam in Klassenstufen. Aber sie tun es jeweils in ihrer Geschwindigkeit und auf ihrem individuellen Niveau. Auch jedes ADHS-, Inklusions- und Flüchtlingskind, jeder Hochbegabte, jede, die in Mathe eigentlich schon eine Klasse weiter ist und in Deutsch noch nicht mal das Niveau ihrer aktuellen Stufe erreicht hat. Möglich wird das durch ein maximal ausdifferenziertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasstes Lernangebot und den Ganztagsbetrieb. Alles eine Frage der Organisation, so Volker Arntz.
„Jedes Kind bekommt jeden Tag genau auf seine Bedürfnisse und sein Leistungsniveau angepasste Aufgaben, die wir ‚Jobs‘ nennen. Diese Aufgaben sind in unserer Lernlandschaft hinterlegt. Der Schüler kann sie sich in seinem eigenen Account am PC herunterladen und ausdrucken, um dann selbstständig daran zu arbeiten.“ Gibt es Fragen, kann man sich an seine Mitschüler wenden oder an den Lernbegleiter, also den Klassenlehrer. „Wie viele Jobs in welchen Fächern das Kind in der Woche bearbeitet, das legt es freitags in seinem Lerntagebuch fest und bespricht die Lernplanung mit dem Lerngruppenleiter.“
Zum Betreuungsteam jedes Schülers zählen außerdem noch je ein „Lernbegleiter“, also ein Fachlehrer, und jeweils ein „Coach“, der die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes im Auge behält: Hat das Kind Probleme in einem Fach, beim Lernen? Nimmt es sich immer zu viel vor? Hält es Vereinbarungen nicht ein? Dann wird die Betreuung engmaschiger. „Das ist die adaptive Lernbegleitung. Damit vergrößern oder verkleinern wir den Raum, in dem das Kind selbstständig, eigenverantwortlich agiert, je nach Bedarf.“

In dieser Schule heißen die Aufgaben „Jobs“. © Mike Abmaier
Betreuungsteam
Und die Eltern? Die Eltern bekommen wöchentlich einen Überblick über die Leistung ihres Kindes, weil sie das Lerntagebuch am Wochenende unterschreiben. Sie werden auch über die Coaches auf dem Laufenden gehalten. „Nicht, was das Fachliche ausmacht, sondern was mit ihrem Kind psychosozial in der Schule passiert“, erklärt Volker Arntz. Wenn die Kinder nachmittags nach Hause kommen, ist ja der Lernstoff schon abgearbeitet, Hausaufgaben gibt es nicht. Das bedeutet auch, dass die Schule die Verantwortung dafür übernimmt, dass die Kinder ihr Pensum wirklich lernen, und sie nicht an die Eltern delegiert.
Punkten
Zudem haben die Kinder in den über 70 pädagogischen Zusatzangeboten am Nachmittag – von Cheerleading über Klettern, von Schach über Textilwerkstatt bis hin zu Poker – schon viel produktive Freizeit mit ihren Freunden verbracht. „Ich mache mit in der Mofa-Werkstatt und spiele im Schulorchester“, erzählt Gabriel. Ganz leise. Denn noch sind im Lernatelier alle mit ihren jeweiligen Jobs beschäftigt – jeder an seinem festen Arbeitsplatz. Eigentlich habe er seinen ja längst einmal aufräumen wollen, flüstert Gabriel angesichts des Chaos in seinem Regal. Und dass er auch deshalb diese Woche gemeinsam mit einer Mitschülerin leider keine Punkte gemacht habe, die man für die Gruppe sammelt. Um dann vielleicht früher in die Pause zu können oder ein Eis zu bekommen. Ja, es gibt durchaus strenge Regeln hier. Eine ganze Liste. Ein paar hängen an der Wand im Lernatelier. Einige stehen unter der Überschrift „Exekutive Funktionen“ in jedem Lerntagebuch ganz vorne.
Darunter fallen etwa Punkte wie „Handlung reflektieren“. „Sie sollen den Schülern helfen, Frustrationen auszuhalten, Impulse zu kontrollieren und sich in andere hineinversetzen zu können“, erklärt Stephan Schlifke. Er ist Gabriels Lernbegleiter und auch der Herr der Punkte. Er sagt, soziale Kompetenzen würden an der Hardtschule ebenso ernst genommen wie Mathe, Deutsch oder Englisch. Das sei eine der vielen Stärken des Modells, so Stephan Schlifke. Der 38-Jährige, der bis vor fünf Jahren an einer Regelschule gearbeitet hat, erzählt, wie groß die Umstellung für ihn anfangs gewesen sei, „die Kontrolle abzugeben, die man vermeintlich im Regelunterricht hat“. In der Regelschule habe er vorne gestanden und gedacht, dass das, was er verkündet, in allen Köpfen gleich gut verstanden wird.
„Bis man eine Klassenarbeit schrieb. Der Schüler bekommt eine Fünf, weil er eben nichts verstanden hat. Trotzdem ging es einfach weiter im Stoff. Es gab keine zweite Chance.“ In der Hardtschule dagegen gibt es erst in der letzten, der Prüfungsklasse, Noten. Davor wird mit Kompetenzchecks geprüft, wie weit der Schüler ist und wo er noch Unterstützung braucht. „Ich sehe dann, das Kind hat dieses oder jenes nicht kapiert. Und ich habe Zeit, diesen Teil zu wiederholen und zu vertiefen.“ Und dann wird der Kompetenzcheck wiederholt.
Lean Management
Und woher kommt sie, all die Zeit, die man sich hier für die immerhin 560 Schüler nimmt? Volker Arntz ist inzwischen wieder dazugekommen, mit Leni, einem von drei Schulhunden, einer Mischung aus „Berner-Sennenhund-und-irgendwas“. Er sagt: „Wir orientieren uns auch da an unternehmerischen Methoden. Stichwort ‚Lean-Management‘. Wir eliminieren konsequent Zeitverschwender, Konferenzen beispielsweise haben wir auf ein Minimum reduziert. So kommt wirklich der größte Teil der Lehrerarbeitszeit beim Kind an. Und natürlich ist auch der umfassende Einsatz digitaler Hilfsmittel, auf denen etwa die Jobs hinterlegt sind, eine Erleichterung.“ Ganz einfach eigentlich und gerade deshalb schwer zu verstehen, wieso es nicht sehr viel mehr Gemeinschaftsschulen gibt. Zumal die Hardtschule ihre Vorbildfunktion amtlich hat: Sie wurde 2020 mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet.
Liebling vieler Kinder ist Schulhündin Leni. © Mike Abmaier
Volker Arntz, Rektor
© Mike Abmaier
Der 55-Jährige hat gemeinsam mit Kollegen, Eltern und Schülern eine ehemalige Werkrealschule in eine Gemeinschaftsschule umgewandelt.
Es gibt auch Kritik am Modell Gemeinschaftsschule, die lautet: Wenn die schwachen Schüler mit den starken lernen, sinkt das Niveau für alle. Wir wissen aus der Forschung, dass sowohl Leistungsschwächere als auch Leistungsstärkere vom kooperativen Lernen profitieren. Jedes Kind, auch der Überflieger, hat Schwächen. Und wie schön ist es, wenn ich dann von den Stärken anderer profitieren kann oder sie von meinen. Das wechselseitige Lernen ist die wirksamste aller Methoden. Denn es bezieht ja noch die soziale Komponente mit ein. Dass man sich gegenseitig unterstützt – und nicht nur Lernender, sondern auch Lehrender ist. Im Unterschied zu Klassen mit Frontalunterricht, in der alle das Gleiche nebeneinander tun.
Hardtschule Durmersheim in Zahlen
560 Schüler
70 pädagogische Zusatzangebote
58 Lehrkräfte
22 Klassen
23 weitere Mitarbeitende
10 Klassenstufen
3 Hunde
1 Tischfußball
1 Mensa
1 ausgedienter Bahnwaggon
1 Schaumparty pro Jahr