Medienkompetenz & Desinformation

Die sozialen Kanäle und Medien sind nicht nur Nachrichtenquellen, sondern Informationsquellen. © gettyimages/Stockbyte
Interview mit Medienwissenschaftler Dr. Philipp Müller
Wie gehe ich damit um? Welche Nachrichtenquellen sind gut, um sich zu informieren? Wir haben bei dem Medien- und Kommunikationswissenschaftler Dr. Philipp Müller nachgefragt. „Es ist wichtig zu wissen, welchen Informationsquellen man vertrauen kann“, sagt Philipp Müller. „Denn Desinformation ist verbreitet und zielt darauf ab, unser demokratisches Gesellschaftssystem in Misskredit zu bringen und auf längere Sicht sogar abzuschaffen.“ Wir beleuchten die wichtigsten Fakten.
Was genau ist Desinformation?
Während die meisten Menschen landläufig von Fake News sprechen, bevorzugt die Wissenschaft den Begriff Desinformation. „Es handelt sich dabei um eine Botschaft, die mit einer Täuschungsabsicht in die Welt gesetzt wird. Sie ist wie eine Nachricht aufgemacht und hat die Anmutung eines journalistischen aktuellen Beitrags“, erklärt der Medien- und Kommunikationswissenschaftler. „Desinformation folgt meist dieser Erzählung: Politische Eliten treffen Entscheidungen, die nicht im Sinne der Bevölkerung sind.“
Wer verbreitet sie
Viele Falschinformationen werden laut Philipp Müller von Rechtsextremisten gestreut, aber auch aus anderen politischen Lagern. Das Ziel ist, die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland zugunsten undemokratischer Parteien zu kippen. Sie unterhalten Nachrichtenportale mit zweifelhaften Inhalten, die nach Journalismus aussehen, aber keiner sind. „Wie die Forschung zeigt, verbreiten auch russische Quellen gezielt Falschinformationen“, so Philipp Müller.
Wer hält sie für wahr?
Der Medienwissenschaftler beobachtet, dass ein Grundmisstrauen gegenüber demokratischen Institutionen für Desinformation empfänglich macht. Eine persönliche Abwertungserfahrung, Zukunftsängste oder beides zusammen können das Vertrauen in Politik und Institutionen erschüttern. Etwa den Ingenieur, der spezialisiert ist auf Autoteile, die für Verbrennungsmotoren gebraucht werden, aber im Zuge der Umstellung auf nachhaltige Antriebe nicht zukunftsfähig sind. „Die Gefahr ist, dass Menschen aus Protest, aus Wut und aus dem Gefühl einer persönlichen Ohnmacht antidemokratischer Desinformation glauben“, so Philipp Müller.
„Ist jemand der Botschaft einer Falschmeldung gegenüber sehr skeptisch eingestellt, hat beispielsweise ein starkes Grundvertrauen in die demokratischen Institutionen – wird er oder sie nicht empfänglich für die Falschmeldung sein.“ Schädliche Auswirkungen von Desinformation sind so gesehen kein generell verbreitetes Phänomen. Allerdings gaben für die aktuelle JIM-Studie 58 Prozent der befragten zwölf- bis 19-Jährigen an, sie seien im Netz mit Fake News in Kontakt gekommen. Und zwei von fünf Jugendlichen sahen sich mit extremen politischen Ansichten konfrontiert. Einordnen können diese sicherlich einige Jugendliche im Gespräch in der Familie. Denn vor allem auf diesem Weg (63 Prozent) erfahren die jungen Menschen laut Studie etwas über das Weltgeschehen (JIM 2023: Jugend, Information, Medien – Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland; Herausgeber: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs)).
Desinformation aufdecken
Sei es auf einer Website oder einem Social-Media-Account – es hilft im Zweifel, sich zu fragen: Wer steckt hinter einer Nachricht und warum lanciert er oder sie diese Information? Welche Finanzierungsquelle könnte sich dahinter verbergen? „Wenn ich etwa eine Nachrichtenquelle habe, zu der es kein Impressum mit dem Namen eines Verantwortlichen gibt, sollte mich das stutzig machen“, so Philipp Müller.
Seriöser Journalismus versus Fake News
Seriöse Berichterstattung basiert auf sorgfältiger Recherche und überprüfbaren Fakten. Sie stützt sich auf unterschiedliche Quellen, um eine ausgewogene Perspektive zu bieten und möglichst unvoreingenommen zu informieren. Seriöse Journalistinnen und Journalisten arbeiten kritisch und unabhängig, bleiben objektiv und halten sich an ethische Standards. Sie vermeiden Sensationslust und Skandalisierung.
Seine Informationsrituale prüfen – Interview mit Dr. Philipp Müller
Dr. Philipp Müller Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Mannheim im Interview. © Anna Logue/Universität Mannheim
alverde: Kann uns mehr Medienkompetenz gegen Desinformation wappnen?
Philipp Müller: Es gibt die Forderung, dass schon Schülerinnen und Schüler darin geschult werden, Falschnachrichten zu erkennen. Es ist wichtig, wachsam und kritisch zu sein. Ich denke aber, dass es Menschen in der Regel überfordert, jede Information, die ihnen im Internet begegnet, zu hinterfragen: Stimmt das oder nicht? Was spricht dafür, was dagegen? Soll ich anfangen zu recherchieren? Das ist unrealistisch.
Wo sollten wir ansetzen, um besser informiert zu sein?
Philipp Müller: Wir können die eigenen Routinen und Gewohnheiten hinterfragen: Welchen Informationsquellen wende ich mich routinemäßig zu? Denn wir wissen aus der Medienforschung, dass vieles durch Routinen bestimmt wird. Es ist gut, vertrauenswürdige Informationsquellen zu kennen und sie in seine Routinen einzubauen. Man kann für aktuelle Nachrichten etwa die App einer seriösen Nachrichtenquelle wie die der Tagesschau nutzen.
Warum sollte man sich nicht nur über Social Media informieren?
Philipp Müller: Viele Informationen auf Social Media wirken wie Junkfood: Sie bringen schnelle Belohnung. Das ist, wie wenn wir viel Fett, Zucker und Salz essen und der Körper darauf schnell neue Energie und Glückshormone freisetzt. Social Media betont oft emotionale Inhalte, wie schnelle Aufreger. Das ist, was die Menschen bei der Stange hält. In Wahrheit sind die meisten Dinge, die uns als Gesellschaft bewegen, aber komplex und ambivalent.
Es gibt meist nicht eine richtige und eine völlig falsche Position, sondern Argumente für die eine und die andere Seite. Man muss sie gegeneinander abwägen und zu einem Kompromiss finden. Das ist im Rahmen einer 45-minütigen TV-Dokumentation oder eines längeren Artikels in der Tageszeitung besser möglich als in einem 15-sekündigen Clip auf einer Social-Media-Plattform, der primär Emotionen wecken muss, damit er nicht weggeklickt wird.
Welche Mischung aus verschiedenen Informationsquellen empfehlen Sie?
Philipp Müller: Eine gute Mischung aus verschiedenen Informationsquellen besteht für mich darin, mal eine halbe Stunde auf Social Media zu verbringen, dann aber auch eine halbe Stunde pro Tag eine langsamere Nachrichtenquelle zu nutzen und sich vielleicht einer Nachrichtensendung in den öffentlich-rechtlichen Sendern zu widmen oder einer seriösen Nachrichten-App, Nachrichten-Website oder Zeitungsausgabe.
Was muss sich an der politischen Kommunikation ändern?
Philipp Müller: Zwei ganz wichtige Dinge sollte die Politik in ihrer Kommunikation vermitteln, um die Menschen in ihren Ängsten abzuholen: Sicherheit und Optimismus. Zu betonen, dass es einen Staat gibt, der sich auch kümmert, der ein Sicherheitsnetz darstellt und dafür sorgt, dass niemand komplett durch den Rost fällt. Schauen wir etwa in die USA, wo es keine Gesundheitsversorgung für alle gibt und ein staatliches Rentensystem, das geringere Auszahlungen bietet als bei uns. Im Vergleich dazu sind wir sehr gut abgesichert.
Das andere ist – was mit Blick auf den Klimawandel und die negativen Zukunftserzählungen gar nicht so leicht fällt –, auch die Chancen zu betonen, die die ökologische Wende birgt, und aufzuzeigen, wie der Staat dabei unterstützen kann, dass der Wandel für die einzelnen Menschen gelingt.
Welche Gefahren bergen durch künstliche Intelligenz, KI, gefälschte Videos und Bilder
Philipp Müller: Studien zeigen, dass es Menschen sehr schwerfällt, manipulierte Videos als Fälschung zu erkennen. Ein Video erhält mehr Aufmerksamkeit und findet so vielleicht noch schneller Verbreitung als ein Text. Ein gefälschtes Video ist jedoch an sich nicht wirkungsvoller als eine Textfälschung. Das größere Problem, das ich sehe, ist die Grundskepsis, die bei vielen Menschen vorhanden ist und die sie dazu verleitet, Desinformation, egal wie sie aufbereitet ist, zu glauben. Diese neuen Fälschungsmöglichkeiten durch KI sehe ich nicht als Gamechanger.
App-Tipps für mehr Medienkompetenz
Nachrichten auf Social Media
Aktuelles in Kurzform bieten seriöse Medien auch auf ihren WhatsApp-Kanälen, wie ZDFheute, tagesschau, ZEIT, MDR, NDR oder der Radiosender SWR3.
Infos für U18-Jährige
Die Buzzard-App will vor allem Jugendliche so informieren, dass sie alle Seiten einer Debatte verstehen (buzzard.org). Der TikTok-Kanal der Tagesschau erhielt 2023 den Digital Media Award Germany. Er bietet zuverlässige Nachrichten und vermittelt Medienkompetenz.