Wie wird die Sprache in Zukunft sein?

Kommunikation: Sprache ist etwas Essenzielles für uns. Wie wird sie sich verändern?
Interviews mit Experten
Sprache geht uns alle an. Entsprechend steigt die Debattentemperatur, wenn es um Sprachverfall, Anglizismen oder das Gendern geht. Wir bleiben sachlich und überlegen mit Forschenden, wie wir uns in rund 50 Jahren verständigen werden.
Wird Gendern 2070 normal sein, Christa Dürscheid?
alverde: Welche Veränderungen in unserer Sprachpraxis erscheinen Ihnen in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich?
Christa Dürscheid: Der Sprachwandel wird in der Linguistik oft mit einem Trampelpfad verglichen: Niemand plant ihn, aber weil viele ihn unabhängig voneinander gehen, entsteht er. Ein häufiges Motiv dahinter ist, dass man sich mit wenig Energieaufwand verständigen will. Das erklärt Vereinfachungen wie den Verzicht auf den Genitiv oder die Nutzung des Perfekts statt des Präteritums in der gesprochenen Sprache. Es gibt aber immer auch gegenläufige Bewegungen: Man verwendet bewusst komplizierte Formen, um sich abzugrenzen. Der Gebrauch von offensichtlich falscher Grammatik bedeutet übrigens nicht immer, dass die Sprecher sie nicht beherrschen. Wenn Jugendliche sagen „Treffen wir uns Bahnhof?“, dann ist das ein spielerischer Regelbruch, mit dem sich ein Teil der jungen Leute von Eltern und Lehrern abgrenzt. Einzelne Wörter aus der Jugendsprache werden nämlich schnell von älteren Generationen übernommen – mit eigenen Grammatikregeln passiert das nicht so schnell und man schafft sich so ein Gruppengefühl.
alverde: Insgesamt ist unsere Sprache aber tendenziell informeller geworden?
Christa Dürscheid: Ja, es ist ein großer Trend über die letzten Jahrzehnte, dass ein salopper und umgangssprachlicher Stil im Schriftlichen in vielen Bereichen akzeptiert ist. Die Menschen haben im letzten Jahrzehnt durch Social Media, Mails und Messengerdienste so viel geschrieben wie nie zuvor. Aber das ändert sich momentan: Sprachnachrichten, Spracheingaben und Videokonferenzen stehen für die Rückkehr des Mündlichen.
alverde: Wird Gendern in 50 Jahren normal sein?
Christa Dürscheid: Ich denke, dass wir noch lange ein Nebeneinander sehen werden: von Menschen, die bewusst so sprechen, anderen, denen es gleichgültig ist, und solchen, die absichtlich nicht gendern. Anders als bei den Trampelpfad-Veränderungen handelt es sich beim Gendern ja um einen gesteuerten Sprachwandel. Denkbar ist, dass immer mehr Verlage und Institutionen das Gendern empfehlen oder gar vorschreiben. Aber dort, wo Menschen es frei entscheiden können, sehe ich nicht, dass Sternchen und Knacklaut Standard werden.
Prof. Dr. Christa Dürscheid ist Linguistin

Sie arbeitet seit 2002 an der Universität Zürich. Sie erhielt unter anderem 2020 den Konrad-Duden-Preis, die bedeutendste Auszeichnung auf dem Gebiet der deutschen Linguistik. Der Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Beobachtung der Gegenwartssprache. © Universität Zürich
Wird Deutsch in 50 Jahren zu einer reinen Privatsprache, Jürgen Gerhards?
alverde: Wird Englisch 2070 die zweite Amtssprache in Deutschland sein?
Jürgen Gerhards: Die Politik zögert noch, diesen Schritt zu gehen, aber langfristig ist er notwendig, um im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte mithalten zu können. Im akademischen Bereich sehen wir diese Entwicklung bereits: An der FU Berlin haben wir den Soziologie-Studiengang vor Jahren auf Englisch umgestellt. Der Anteil ausländischer Studierender liegt heute bei etwa 70 Prozent, ohne dass sie den deutschen Studierenden Plätze wegnehmen.
alverde: Aber abseits von Wissenschaft und internationalen Unternehmen, welche Rolle wird Englisch spielen?
Jürgen Gerhards: Englischkenntnisse werden für nahezu alle Berufe wichtig sein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Die internationalen Verflechtungen werden voranschreiten und deshalb ist eine gemeinsame globale Zweitsprache unverzichtbar. Wenn die Politik weitsichtig ist, wird sie den Englischunterricht in den nächsten Jahren massiv ausbauen: Auf dem Gymnasium sollten nach meiner Überzeugung die naturwissenschaftlichen Fächer auf Englisch unterrichtet werden.
alverde: Und Deutsch wird dann zu einer Sprache fürs Privatleben? Oder wird immer „denglischer“?
Jürgen Gerhards: Ich habe überhaupt keine Angst um die deutsche Sprache. Die Zahl der Muttersprachler ist so groß, dass Deutsch eine starke, lebendige Sprache bleiben wird. Das Englische wird ein Add-on.
alverde: ... ein Zusatz und Gewinn.
Jürgen Gerhards: Das war einer der wenigen Anglizismen, die ich in diesem Gespräch gebraucht habe. Der Einfluss von Anglizismen auf die Muttersprachen wird völlig überschätzt. Die Sprachstruktur und auch der allergrößte Teil unseres Wortschatzes bleiben vom Englischen unberührt.
alverde: Ein anderes Szenario: Wenn KI die Rolle von Simultandolmetschern übernimmt, können wir uns dann nicht das Fremdsprachenlernen sparen?
Jürgen Gerhards: Angesichts der Fortschritte bei Übersetzungsprogrammen halte ich das für durchaus möglich. Es wäre nur noch ein technischer Assistent nötig, der auch mündlich reibungslos funktioniert. Trotz der Vorteile, die damit verbunden wären, sehe ich auch einen großen Nachteil. Eine Fremdsprache zu lernen, bedeutet auch, in das Denken und die Kultur eines anderen Landes einzutauchen. Es wäre schade, wenn das verloren ginge.
Prof. Dr. Jürgen Gerhards, Soziologe
Er arbeitet an der Freien Universität (FU) Berlin. Da einer seiner Schwerpunkte die Europaforschung ist, treibt ihn auch um, wie wir uns auf dem Kontinent verständigen können. © Bernd Wannemacher
Werden wir 2070 lieber mit Robotern als mit Menschen sprechen, Noah Bubenhofer?
alverde: Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt sich rasant, wie könnte ein Chatbot 2070 aussehen?
Noah Bubenhofer: Er wird uns in ganz unterschiedlichen Formen begegnen, auch in körperlichen. Im Moment ist die Interaktion begrenzt: Wir tippen etwas in ein Browserfenster ein und bekommen eine Antwort. Dadurch, dass Large-Language-Modelle (Anm. d. Red.: Erklärung im Kasten) sehr viele Texte gesehen haben, sind sie in der Lage, sprachliche Muster zu identifizieren und neue Texte zu produzieren. Unsere Kommunikation ist aber sehr viel komplexer. In Zukunft wird die KI auch an den Gesten, der Betonung und allem, was bei einer Unterhaltung nonverbal abläuft, lernen. Das Ergebnis werden Maschinen sein, die sehr viel menschenähnlicher erscheinen. Wir werden eine vielfältige und lebendige Kommunikation mit der KI haben.
alverde: Wird die KI uns das Formulieren und damit auch das Denken abnehmen?
Noah Bubenhofer: Wir werden immer noch die Kompetenz brauchen, um das, was die KI macht, beurteilen zu können. Daher bin ich optimistisch, dass wir das Denken, Schreiben und Lesen nicht aufgeben werden. Wir sehen schon jetzt im schulischen Kontext und beim Sprachenlernen, dass die KI ein sehr guter und geduldiger Tutor ist. Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen sie auch in Anspruch nehmen, wenn es um besseren Ausdruck oder korrekte Grammatik geht. Aber wir werden sicher insgesamt viel mehr Kommunikation als heute an die KI auslagern.
alverde: Was sollten wir nicht der KI überlassen?
Noah Bubenhofer: Die Art von Kommunikation, die der Beziehungspflege dient und eine Vertrauensbasis schafft. Wenn ich beispielsweise die Nachricht eines guten Freundes erhalte und denke: „Das war ja nur die KI, die den Text produziert hat“, dann bin ich enttäuscht. Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach Authentizität.
alverde: Aber je besser KI sich individuelle Sprachstile aneignen kann, desto schwieriger wird die Unterscheidung. Kann es sein, dass wir die Kommunikation mit einer KI befriedigender finden werden als mit Menschen?
Noah Bubenhofer: Die Gefahr besteht absolut. Es gibt schon heute Menschen, für die es viel attraktiver ist, Computerspiele zu spielen, als mit Menschen zu sprechen. Ich denke, es hängt sehr davon ab, welche Bedeutung wir als Gesellschaft der KI zuschreiben. Momentan wird die KI extrem überhöht: Wir trauen ihr alles Mögliche zu und halten sie gleichzeitig für enorm gefährlich. Das kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Ich wünsche mir, dass wir die KI einfach pragmatisch als Tool dort einsetzen, wo es sinnvoll ist. Die Voraussetzung dafür wäre ein transparenter Umgang: dass KI nicht ausschließlich in kommerzieller Hand ist, sondern dass sie kontrollierbar ist und es Aufklärung darüber gibt, wie sie funktioniert.
Prof. Dr. Noah Bubenhofer, Linguist
Er lehrt und forscht am Linguistik Zentrum der Universität Zürich. Zu seinen Schwerpunktthemen gehören Digitale Linguistik, Maschinelle Sprachverarbeitung und Maschinelles Lernen. © Universität Zürich
KI-Lexikon
Large Language Models (LLM):
Ein Large Language Model ist ein KI-Modell, das auf riesigen Textmengen trainiert wurde, um menschliche Sprache zu verstehen und zu generieren. Bekanntestes Beispiel ist ChatGPT.
KI-basierte Sprachassistenten:
Sprachassistenten wie Siri und Alexa nutzen künstliche Intelligenz, um gesprochene Befehle zu verstehen und darauf zu reagieren. Sie verwenden verschiedene Technologien, darunter maschinelles Lernen und natürliche Sprachverarbeitung.