Unternehmen gründen: Freiheit oder Risiko?

Ideen, die aus dem Rahmen fallen? Manchmal der erste Schritt zur Unternehmensgründung. ¹⁾
Welche Rahmenbedingungen Start-ups brauchen
Die Arbeitswelt wird freier und flexibler, ein Gewinn für viele. Gleichzeitig verliert das Unternehmertum in Deutschland an Reiz, vor allem für die jüngere Generation. Warum es sich dennoch lohnt, das Risiko einer Gründung einzugehen, wie wir mehr Mut zu Neuem schaffen können und welche Rahmenbedingungen Start-ups wirklich brauchen, diskutieren Arbeitspsychologin Prof. Dr. Simone Chlosta und Jessie Wölke, Mitgründerin der Upcycling-Kosmetikmarke No Planet B.
alverde: Frau Wölke, was hat Sie motiviert, nach anspruchsvollen Aufgaben in großen Unternehmen mit Ihrem Mann Ihr eigenes Start-up zu gründen?
Jessie Wölke: Ich habe eigentlich nie mit dem Angestelltendasein gehadert. Aber mit um die 40 und auch angestoßen durch unsere Kinder, haben Sebastian und ich uns gefragt: Wollen wir so weitermachen und im Grunde genommen für andere Sachen realisieren oder wagen wir den Sprung und versuchen unsere eigenen Ideen und Werte zu verfolgen? Da war uns ziemlich schnell klar: jetzt oder nie. Vielleicht nicht der typische Zeitpunkt, Ü40 und mit Familie. Aber für uns war es richtig. Wir hatten viele Berufserfahrungen gesammelt, fühlten uns sicher mit unseren Skills und hatten auch ein kleines finanzielles Polster.
Stichwort „typisch“: Frau Chlosta, Sie beschäftigen sich in Ihrer Professur mit Neugründungen. Gibt es den typischen Gründer, die typische Gründerin?
Simone Chlosta: Rein statistisch gründet die Altersgruppe zwischen 18 und 35 und davon häufiger Männer. Aber wenn ich sage: „Der typische Gründer ist Tobias, 32 Jahre, mit einem Start-up“, dann unterschlägt das die große Vielfalt, die wir bei Gründungen haben und auch brauchen. Sie reicht von der Bäckerei bis zu einem sehr innovativen Start-up. Und natürlich gründen auch Menschen mit Berufserfahrung. Sie bringen oft das Wissen mit, das sie vor manchem Fehler bewahrt.
alverde: Was motiviert Ihre Studierenden, also die Generation Z, zur Gründung?
Simone Chlosta: Es geht ihnen sehr stark um die Sinnhaftigkeit und die gesellschaftliche Wirkung, den Impact. Das heißt nicht, dass jedes Unternehmen sich um Nachhaltigkeit dreht oder als Sozialunternehmen fungiert, auch wenn das gerade bei jungen Frauen eine große Rolle spielt. Aber die jungen Gründerinnen und Gründer schauen sich von Anfang an die Auswirkungen ihrer Prozesse und ihrer Wertschöpfungsketten an. Früher gab es eher die Einstellung: Das mache ich erst, wenn ich etabliert bin und es mir leisten kann.
alverde: Viele Angestellte erleben heute mehr Selbstbestimmung durch flexible Arbeitsmodelle und Homeoffice – glauben Sie, dass das Unternehmertum deshalb für junge Menschen weniger attraktiv wird?
Jessie Wölke: Ich beobachte, dass Arbeit in der Gen Z nicht mehr denselben Stellenwert hat wie in meiner Generation. Und es kann gut sein, dass durch die flexiblere Arbeitswelt jetzt tatsächlich ein Bonus des Unternehmertums weggefallen ist. Aber meine eigene Erfahrung ist, dass man gerade als Unternehmerin die Work-Life-Balance gut hinbekommt.
Simone Chlosta: Für diejenigen, die ihre eigenen Ziele verwirklichen und unabhängig entscheiden möchten, ist das Unternehmertum die beste Option; das kriegt man im Angestelltenverhältnis nicht so gut hin. Aber die Erfahrung zeigt: Eine gute Konjunktur oder aktuell der Fachkräftemangel reduzieren die Zahl der Gründungen. Insofern sind der Arbeitsmarkt und die Unternehmenskultur im Moment auf jeden Fall keine Treiber für die Gründerszene.
alverde: Unternehmertum ist auch mit Risiken verbunden, das größte ist, dass das Unternehmen scheitert. Wie gehen Sie damit um?
Jessie Wölke: Es tut weh, man muss erst mal seine Wunden lecken. Aber in den Situationen, in denen mein Mann und ich gescheitert sind, bin ich auch am meisten gewachsen. Meine Lernkurve war nie steiler als als Unternehmerin. Das motiviert auch zum Weitermachen. Im Übrigen, so sicher finde ich das Angestelltendasein auch nicht mehr. Ich habe bei großen internationalen Unternehmen einige Restrukturierungsprogramme mitgemacht, bei denen ich jedes Mal um meinen Job gezittert habe.
Simone Chlosta: In den USA wird immer mit einem Lächeln gesagt: „Deine zweite Gründung wird die erfolgreichste sein“. Weil man in der ersten die Fehler macht, und das gehört zu einem Gründungsprozess dazu. In Deutschland ist das Scheitern immer noch mit einem Makel behaftet. Der finanzielle Verlust ist das eine, das andere ist der Ruf, der es einem möglicherweise schwerer macht, wieder einen Kredit zu bekommen.
alverde: Menschen mit Migrationsgeschichte gründen überproportional viel. Liegt das an fehlenden anderen Chancen oder bringen sie eine andere Einstellung mit?
Simone Chlosta: Der Mangel an anderen Möglichkeiten gibt oft den Ausschlag. Wenn Menschen beispielsweise in ihrem Heimatland gut qualifiziert sind, aber Abschlüsse hier nicht anerkannt werden, dann ist die Unternehmensgründung für sie die beste Option. Gleichzeitig kommen die Menschen oft aus Kulturen, in denen Selbstständigkeit selbstverständlicher ist.
Jessie Wölke: Es gibt in den USA den berühmten Satz: „Ask what you can do for your country“. In Deutschland ist es fast umgekehrt, man sagt: „Papa Staat macht das schon“. Dieses Mindset müssen wir unbedingt aufbrechen, und zwar über alle Altersgruppen, weil sowohl Jüngere wie auch Ältere so viel zu geben haben.
alverde: Was hält Menschen vom Gründen ab? Äußere Hürden wie die Bürokratie oder sind wir zu satt und zu ängstlich?
Jessie Wölke: Wir sind in Deutschland einfach viel zu schnell mit zu viel Bürokratie konfrontiert und das hindert einen daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Nämlich, wie setze ich meine Idee um und wie baue ich mein Geschäft auf? Andere Länder, deren Systeme gut mit dem deutschen vergleichbar sind, zeigen, dass es anders geht. In Großbritannien beispielsweise hat man das gesamte Steuersystem noch mal neu geschrieben, sodass es möglichst schnell und einfach zu verstehen ist.
Simone Chlosta: Es gibt in Deutschland gute Förderprogramme, ich habe bei meiner Gründung selbst eines in Anspruch genommen. Aber ich wusste auch, wie das System funktioniert. Dieses Insiderwissen haben viele potenzielle Gründer nicht. Zu solchen praktischen Schwierigkeiten kommt das tiefer liegende Problem, dass wir in Deutschland zu wenig sichtbare Vorbilder haben und das Thema Freiberuflichkeit und Unternehmertum in unserem Schul- und Ausbildungssystem zu kurz kommt. Es gibt nur wenige Schulen, in denen mit Schülerfirmen Unternehmergeist geübt wird. Die Zahl der Lehrstühle für Entrepreneurship ist in den letzten 30 Jahren zwar deutlich gestiegen, aber sie sind meist in den Wirtschaftswissenschaften verankert. Ich wünsche mir mehr Offenheit für andere Fachbereiche.
Jessie Wölke: Die Vorstellungen vom Start-up sind sehr stereotyp. Als größter Erfolg wird gefeiert, wenn ein Start-up den Exit macht, also die Gründer es teuer verkaufen können. Das passiert aber extrem selten und wäre für mich überhaupt nicht erstrebenswert. Wir müssen vielfältiger über das Thema Gründung sprechen und zeigen, dass Menschen in den unterschiedlichsten Lebensphasen gründen können, und zwar nicht aus der Not heraus, sondern weil sie Ideen und Ideale verfolgen.
alverde: Bei welchen Bevölkerungsgruppen sehen Sie noch Potenzial fürs Unternehmertum?
Simone Chlosta: Ich würde das Hauptaugenmerk auf Frauen legen. Sie sind vor allem in der Start-up-Szene unterrepräsentiert, aber wenn sie gründen, sind sie sehr erfolgreich.
Jessie Wölke: Meine Botschaft an Frauen ist, dass einem das eigene Unternehmen mehr Freiheiten eröffnen kann. Was ich am meisten schätzen gelernt habe, ist, dass ich frei über meine Zeit verfüge. Statt von einem Meeting ins nächste zu hetzen, kann ich konzentriert an Themen arbeiten, die mir wichtig sind. Auch für meine Kinder habe ich mehr Zeit als früher als Angestellte in Vollzeit. Und es ist mir wichtig, dass ich als Entrepreneurin auch meiner Tochter ein Vorbild sein kann.
Unsere Expertinnen
Jessie Wölke
Die Britin ist Expertin für Markenentwicklung. Sie begann ihre Karriere in einer Werbeagentur, wo sie an der Dove-Kampagne „Echte Frauen, echte Kurven“ arbeitete, bevor sie 2006 in die Industrie und 2013 in den Einzelhandel wechselte. 2017, im Alter von 42 Jahren, gründete Jessie Wölke mit ihrem Ehemann Sebastian ihr Start-up No Planet B. Die Marke verwendet Upcycling-Inhaltsstoffe, die als Nebenprodukte aus der Lebensmittelindustrie stammen. Nachdem die Marke nicht die erhoffte Resonanz fand, ging No Planet B erfolgreich eine Kooperation mit dm ein: Das Upcycling-Konzept blieb, Verpackung und Kommunikation erhielten einen frischen Auftritt.
Prof. Dr. Simone Chlosta
Sie ist von ihrer Ausbildung her Kauffrau, Diplom-Psychologin und promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. In ihrer Promotion beschäftigte sie sich bereits mit Bedingungen für Unternehmensgründungen. Sie gründete erfolgreich ein eigenes Unternehmen, bevor sie wieder in die Wissenschaft wechselte und nun seit mehr als 15 Jahren zu den Themen Mittelstand, Innovation, Unternehmerpsychologie, Neu- und Nachfolgegründung forscht und lehrt. Seit einigen Jahren engagiert sie sich zudem für Inclusive Entrepreneurship. An der FOM Hochschule leitet sie das CIBE (Center for Innovation, Business Development & Entrepreneurship).

