Nachhaltige Wohnkonzepte

Übersichtliches Tiny House oder lieber eine klassische Altbauwohnung? Wie werden wir in Zukunft wohnen?
Im Dialog mit Van Bo Le-Mentzel und Dr. Barbara Perfahl
Wo Wohnraum knapp ist, sind neue Visionen gefragt. Architekt Van Bo Le-Mentzel und Wohnpsychologin Dr. Barbara Perfahl ergründen die Zukunft des Wohnens – zwischen Rückzugsort und Gemeinschaft, innen und außen, und dem wahren Wert von Wohnfläche.
alverde: Wovon hängt es ab, ob sich jemand in seinem Wohnraum wohlfühlt?
Van Bo Le-Mentzel: Aus meinen Erfahrungen mit den Tiny Houses* ergeben sich drei Punkte: Erstens, dass Du freiwillig an einem Ort lebst. Es gibt Obdachlose in Kalifornien, die sich dafür entschieden haben, am Strand zu schlafen. Auf der anderen Seite gibt es eine reiche Frau wie Melania Trump, die sich im Weißen Haus offensichtlich unwohl gefühlt hat, weil sie nicht in Washington sein wollte. Zweitens, dass jede Person im Haushalt einen Rückzugsraum hat, der visuell und möglichst auch akustisch abgegrenzt ist. Der dritte Punkt liegt außerhalb der Wohnung, ist aber genauso wichtig: der unkomplizierte Zugang zu einer Gemeinschaft, die Dich so nimmt, wie Du bist. Deshalb sind Eckkneipen oder Cafés als niedrigschwellige Treffpunkte so wichtig.
Dr. Barbara Perfahl: Die individuellen Wohnbedürfnisse müssen erfüllt sein. Viele Menschen wissen beim Thema Wohnen allerdings gar nicht, was sie wollen und brauchen. In der Coronapandemie ploppte die Frage dann zwangsläufig auf: Fühle ich mich in meiner Wohnung wohl, wenn ich mich 24/7 darin aufhalten muss? Wo hakt es? Es kann wie ein Kleidungsstück sein, das an einer Stelle kratzt. Dann brauche ich nicht gleich eine neue Garderobe, aber muss doch etwas verändern.
alverde: Sehen Sie gesellschaftliche Bewegungen, Wohnformen zu verändern?
Barbara Perfahl: Die Wohnideale haben sich ausdifferenziert. Früher war das Einfamilienhaus mit Garten das Ideal, für viele ist es das immer noch. Aber es gibt auch Menschen, die sich freiwillig verkleinern. Die ziehen dann nicht in ein Tiny House, aber vielleicht vom Haus am Stadtrand in eine Stadtwohnung, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Ein anderes Beispiel sind Wohnprojekte, bei denen sich Menschen, die sich vorher oft nicht gekannt haben, auf viel Kooperation und Gemeinschaft einlassen.
alverde: Herr Le-Mentzel, Sie argumentieren, dass Wohnglück nicht an der Größe hängt. Aber was gewinne ich tatsächlich, wenn ich an Quadratmetern verliere?
Van Bo Le-Mentzel: In Tiny Houses kann man einen größeren Radius haben als in einem Einfamilienhaus, weil sie flexibler sind. Mit ihnen kann man innerhalb von zwei Wochen in ein anderes Land fahren und beispielsweise mobil vom Strand arbeiten.
Barbara Perfahl: Für einige Menschen ist diese Flexibilität perfekt. Aber es gibt andere, die eine starke Verwurzelung brauchen. Die wollen sich einmal quasi für ihr Leben einrichten und empfinden jede Veränderung als Stress.
alverde: Die Idee eines verkleinerten individuellen Wohnraums geht meist einher mit mehr Platz für gemeinschaftliche Räume. Welche Konzepte sind in unserer individualisierten Gesellschaft tatsächlich realisierbar?
Van Bo Le-Mentzel: Es ist mehr möglich, als wir glauben. Ich nehme gerne Spielplätze als Metapher. Was ist besser: Ein großer Spielplatz mit coolen Geräten, auf dem 100 Kinder spielen können, oder kleine Sandkästen in 100 Gärten? Bei Spielplätzen akzeptieren wir das Teilen. Genauso kann man bei Smoothieblendern, Waschmaschinen und Jacuzzis fragen, ob die jeder für sich braucht. Ökonomisch, ökologisch und sozial macht es bei vielem Sinn, nachbarschaftliche Lösungen auf einer gemeinschaftlichen Fläche zu finden. Ich unterscheide zwischen den „Drinnies“, die einen Großteil ihrer Zeit gern in ihrer Wohnung verbringen, und den „Draußies“, die viel Gemeinschaft im öffentlichen Raum suchen. Ich will die Drinnies gar nicht ändern. Aber im Moment gibt es für die Draußies zu wenig Angebote.
Barbara Perfahl: Ich sehe in Neubauten oft, dass für Wohnungen die maximale Quadratmeterzahl herausgeholt wird und der halböffentliche Raum vernachlässigt wird. Dabei sind schön gestaltete Flure und Treppenhäuser ein Schutz gegen Vandalismus.
alverde: Bauen ist teuer und es gibt von Sicherheit bis Energie viele Auflagen. Verhindert das Innovationen?
Van Bo Le-Mentzel: Auflagen sind für gute Architekten kein Problem. Ich erlebe aber, dass es unheimlich schwer ist, mit Bauträgern das Bauen qualitativ zu diskutieren. Bei meinem aktuellen Entwurf für ein Mehrfamilienhaus habe ich einen Grundriss entworfen, der es ermöglicht, Wohnungen nachträglich zu verkleinern: Eine Wohnung mit zwei Eingangstüren, die man später in zwei Wohnungen aufteilen kann, oder eine Wohnung und ein Büro, die daher zwei Eingangstüren haben müssen. Das ist weder technisch schwierig noch kosten zwei Türen ein Vermögen. Es ist eher eine Kopfsache. Es fehlt die Bereitschaft, etwas anders zu machen, wenn es nicht unmittelbar notwendig ist oder sich sofort auszahlt.
alverde: Unsere Städte und Dörfer sind über Jahrhunderte gewachsen. Was aus der Vergangenheit inspiriert Sie?
Van Bo Le-Mentzel: Wir haben in Europa gut erprobte Wohnungstypen. Etwa die Laubenganghäuser. Mit ihnen spart man Treppenhäuser und gewinnt Balkone, die gemeinschaftlich genutzt werden. Ein anderes Beispiel ist die Blockrandbebauung aus dem 19. Jahrhundert. Bei ihr sind die Häuser um einen Innenhof gruppiert. Und in den Wohnungen bieten die typischen hohen Räume Möglichkeiten für Nachverdichtung etwa mit einem Hochbett oder einer Ablage. Oft sind die Räume so geschnitten, dass sie sich auch für Büros oder Ladenlokale eignen. Es wundert mich, dass wir dieses Erbe nicht nutzen und an unsere Zeit anpassen. Ich glaube, viele Architekten sind zu sehr Diva; sie sehen sich als Künstler und wollen alles noch mal neu erfinden.
Barbara Perfahl: Mir tut es weh, wenn funktionierende Altbauten abgerissen werden und überdimensionierte Neubauten kommen, die weder zur Nachbarschaft noch ins Stadtbild passen. Es ist kein Ausdruck von Nostalgie, dass Menschen Altbauten so schätzen. Wir haben ein Bedürfnis nach Schönheit. Und wir finden Dinge schön, die von der Reizstruktur her einer natürlichen Umgebung entsprechen: nicht zu viel und nicht zu wenig. Deshalb gefallen uns die strukturierten und verzierten Fassaden aus der Gründerzeit besser als die glatten in vielen Neubauten. Aber auch aus 80er-Jahre-Bauten lässt sich oft durch Sanierung etwas machen. Wir wissen: Wir haben nicht endlos Platz und Energie. Wir müssen mit dem haushalten, was da ist. Aber das schafft auch Raum für kreative Lösungen und Neues – das macht mich optimistisch.

Dr. Barbara Perfahl, Wohnpsychologin
Sie besuchte schon während ihres Psychologiestudiums Architekturvorlesungen. Seit 2008 berät sie Menschen zur optimalen Raumgestaltung. Außerdem hat sie zum Thema Wohnpsychologie verschiedene Bücher geschrieben.

Van Bo Le-Mentzel, Architekt
Er wurde mit Hartz-IV-Möbeln zum Selberbauen und Tiny-House-Projekten, an denen er auch Obdachlose und Geflüchtete beteiligt, bekannt. Van Bo Le-Mentzel ist ein Vordenker in der Bewegung für minimalistisches Wohnen mit Gemeinsinn.
Bild oben (v.l.n.r): gettyimages/Igphotography, Phillip Obkircher, plainpicture/Joseffson