Was ist gute Arbeit?
Woran machen wir fest, wenn Arbeit uns erfüllt? ¹⁾
Im Interview mit Herr Harms, Herr Dr. Cornelius Markert und Frau Tatjana Schnell
Arbeit nimmt viel Raum in unserem Leben ein – zeitlich, aber auch emotional. Sie kann beflügeln oder belasten, uns wachsen lassen oder ausbremsen. Die Erwartungen an die Arbeit sind hoch, aber auch die Ansprüche, die heute an viele Mitarbeitende gestellt werden. Digitalisierung, Fachkräftemangel und demografischer Wandel mischen die Karten noch einmal neu. alverde geht der Frage nach, wie berufliche Qualifikation zukunftsfest wird, was künstliche Intelligenz für die Produktivität bedeutet und warum Sinnhaftigkeit jeden Beruf bereichern kann.
1. Qualifikation – Lernen, in Bewegung zu bleibe
alverde: Unsere Arbeitswelt verändert sich vor allem technologisch schnell. Welche Qualifikationen sollten Unternehmen Berufseinsteigern vorrangig vermitteln?
Christian Harms: Es wird weniger wichtig, einen konkreten Handgriff perfekt zu beherrschen oder Fakten auswendig zu lernen. Künftig zählt, wie wir denken: kreativ, kritisch, vernetzt. dm-Gründer Götz W. Werner hat es „konstruktive Unzufriedenheit“ genannt – ein inneres Kribbeln, das uns dazu bringt, die Dinge zu hinterfragen, nicht die erstbeste Antwort zu akzeptieren. Diese Fähigkeit ist nicht nur für die Arbeit entscheidend, sondern stärkt auch unsere Demokratie.
alverde: Wie lässt sich ein solcher Geist fördern?
Christian Harms: Indem man Vertrauen schenkt, wenig Details vorgibt und gleichzeitig klare Rahmenbedingungen setzt. Bei dm ist das zum Beispiel unsere starke Kundenorientierung. Wer sie verinnerlicht hat, kann Prioritäten eigenständig erkennen. Das ist nicht nur unsere Philosophie, wir schaffen Erfahrungsräume – etwa im Theaterprojekt „Abenteuer Kultur“, in dem junge Menschen in andere Rollen schlüpfen und so ihre Empathiefähigkeit trainieren. Auch Führungskräfte sind gefordert: Wenn sie selbst Kritik zulassen und bereit sind, Vertrautes zu verlernen, entsteht eine Kultur des gemeinsamen Lernens.
alverde: Wie behält das Lernen nach der Ausbildung Platz im Arbeitsalltag?
Christian Harms: Dafür braucht es Freiräume und die entstehen durch effiziente, intuitive Prozesse. Wenn wir davon sprechen, dass wir Dinge hinterfragen, dann heißt das nicht, dass jeden Tag etwas Neues ausprobiert wird und alles im Fluss ist. Wir bewegen uns vielmehr von einem festen Zustand hin zum nächsten festen Zustand.
alverde: Welche Rolle spielen digitale Lernformen?
Christian Harms: Sie sind ein guter Einstieg, etwa um Grundlagen zu vermitteln. Wir arbeiten mit Videos, Online-Schulungen mit spielerischen Elementen und Podcasts. So bieten wir Formate, die verschiedene Lerntypen ansprechen. Doch wenn es um Kreativität und Austausch geht, setzen wir auf Präsenzformate. Denn Innovation entsteht oft durch Zufall – beim Gespräch an der Kaffeemaschine, nicht im Webseminar.
Christian Harms, Geschäftsführer für das Ressort Mitarbeiter bei dm
© Christina Riedl
Er begann 1996 sein duales Studium bei dm, war Marktverantwortlicher, Gebietsverantwortlicher, Sortimentsmanager und ist seit 2008 in der dm-Geschäftsführung.
2. Produktivität – nicht mehr, sondern intelligenter arbeiten
alverde: Produktivität klingt für viele abstrakt. Was steht hinter dem Begriff?
Cornelius Markert: Produktivität misst, wie viele Güter oder Dienstleistungen in einer Stunde Arbeit entstehen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Hebel: Wenn wir produktiver werden, können wir mehr herstellen oder weniger arbeiten. In den letzten 150 Jahren ist beides passiert: Die Arbeitszeit hat sich halbiert, der Lebensstandard ist deutlich gestiegen.
alverde: Geht das so weiter?
Cornelius Markert: Wir stehen vor einem neuen Produktivitätsschub durch KI. Im Gesundheits- und Bildungsbereich kann sie die Diagnosen erleichtern, Dokumentationen schreiben oder Bildungspläne erstellen. Aber: Der Mensch bleibt zentral. Es braucht weiterhin Fachkräfte, die die Technik verstehen, bewerten und begleiten. Auch in der industriellen Produktion gibt es trotz hoher Automatisierung noch Spielräume, durch KI produktiver zu werden – etwa in der Qualitätssicherung, Wartung oder Logistik.
alverde: Höhere Produktivität durch KI: Kann das auch bedeuten, dass für Menschen zwar noch anspruchsvolle, aber insgesamt wenige Tätigkeiten übrig bleiben?
Cornelius Markert: Die Gefahr besteht, aber es liegt an uns, wie wir den Wandel gestalten. Als ein Plus sehe ich das duale Ausbildungssystem in Deutschland. Mit diesem erwirbt man genau den praktischen und theoretischen Zugang, der auch bei der Arbeit mit KI wichtig ist. Hinzu kommt die Unternehmenskultur in Deutschland und Europa, in der es einen hohen Grad an Mitbestimmung und Sicherheit gibt: Sie bringen vermutlich eher Ideen ein, wie KI weite Teile Ihrer Arbeit übernehmen kann, wenn Sie die Gewissheit haben, dass Sie eine neue Aufgabe bekommen.
alverde: Kann der Produktivitätsgewinn durch KI auch den demografischen Wandel abfedern? Momentan wird ja eher die Forderung nach mehr Arbeitsstunden gestellt.
Cornelius Markert: Mehr Stunden führen nicht automatisch zu mehr Produktivität. Im Gegenteil: Nach langen Arbeitstagen steigen Fehleranfälligkeit und Unfallrisiken. Produktivität heißt eben nicht, schneller oder länger zu arbeiten, sondern intelligenter. Entscheidend ist ein gutes Verhältnis von Input zu Output. Und da sehe ich große Chancen: durch neue Techniken wie KI, aber auch durch bessere Organisation und Arbeitsbedingungen.
Dr. Cornelius Markert, Geschäftsführer am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit
© Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit
Der Arbeitsökonom beschäftigt sich mit Veränderungen in der Arbeitswelt, insbesondere mit der Frage nach guter Arbeit und Produktivität.
3. Sinn – Die Kraft des Wozu und seine Grenzen
alverde: Manche erleben ihre Arbeit als sinnstiftend, andere eher als Broterwerb. Was macht den Unterschied?
Tatjana Schnell: Wir haben vier zentrale Kriterien identifiziert, die uns Sinn in der Arbeit erleben lassen: Erstens die Kohärenz – also dass die Tätigkeit zu meinen Talenten und Werten passt. Zweitens die Orientierung: Ich kann mich mit dem Purpose des Unternehmens identifizieren. Drittens die Bedeutsamkeit: Ich erlebe, dass mein Tun jemandem nützt. Und viertens das Gefühl von Zugehörigkeit, also als Mensch wahrgenommen zu werden, nicht nur als Funktion. Alle vier Faktoren müssen nicht gleich stark ausgeprägt, aber sie müssen im Grundsatz erfüllt sein. Wenn das gelingt, steigt auch die Bereitschaft, schwierige Phasen als Herausforderung zu begreifen.
alverde: Das Klischee besagt, die Krankenschwester hat eine sinnvolle Arbeit, der Werbetexter nicht. Stimmt das so?
Tatjana Schnell: Es gibt in allen Branchen Menschen, die ihre Arbeit als sinnvoll erleben. In sozialen und medizinischen Berufen ist ihr Anteil besonders hoch. Aber gerade dort sehen wir auch viele Sinnkrisen, wenn etwa die Rahmenbedingungen nicht ermöglichen, das zu leben, was man eigentlich als sinnvoll empfindet. Dann entsteht ein Spannungsverhältnis, das bis zum Burn-out führen kann.
alverde: Was kann ich selbst dazu beitragen, meine Arbeit als sinnerfüllter zu erleben?
Tatjana Schnell: Sinn lässt sich nicht allein herstellen. Ich kann keine Verantwortung spüren, wenn mir keine übertragen wird. Und wenn das Unternehmensleitbild sich im Arbeitsalltag nicht wiederfindet, hilft es nicht, sich das schönzureden. Es gibt Möglichkeiten, das zu ändern – etwa, wenn man mit Vorgesetzten ins Gespräch geht. Das mag nicht immer angenehm sein, aber es ist besser, als einfach zu kündigen.
alverde: Erwarten wir heute vielleicht zu viel von der Arbeit?
Tatjana Schnell: Ja, oft. Arbeit sollte sinnvoll sein, aber nicht notwendigerweise unser Lebenssinn. In den letzten Jahrzehnten haben viele sich stark über ihren Job definiert. Das wird problematisch, wenn durch KI Aufgaben wegfallen. Zu den wichtigsten Sinnquellen zählt, Fürsorge und Verantwortung für die nachfolgende Generation zu übernehmen. Arbeit kann zu einem sinnvollen Leben beitragen – aber sie muss es nicht allein leisten.
Tatjana Schnell, Professorin für Existenzielle Psychologie an der MF Specialized University in Oslo
© Florian Lechner
Sie erforscht seit über 20 Jahren, wie Menschen Sinn erleben, und hat darüber mehrere Sachbücher geschrieben.