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Weniger Autos – mehr grün

Frau und Fahrrad

© Westend61/William Perugini

Interview zur „Verkehrswende“: Herausforderungen und Chancen für eine nachhaltige Mobilität

„Verkehrswende“ zielt darauf ab, dass weniger Menschen ihr eigenes Auto benutzen. Doch das erfreut sich größtmöglicher Beliebtheit. Wie sich auf den Straßen dennoch etwas ändern kann, darüber sprechen Ulrich Chiellino vom ADAC und Verkehrspsychologe Jens Schade.

alverde: Das Auto ist, was Verkehrsmittel oder -wege anbetrifft, die unangefochtene Nummer eins. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Gründe dafür?
Ulrich Chiellino: Die Flexibilität und Zuverlässigkeit. Ich kann zum selbst gewählten Zeitpunkt unterwegs sein und je nach Situation allein oder zusammen mit anderen. Zudem lassen sich mit dem Auto Gegenstände am bequemsten transportieren. Sehr vernünftige Gründe also.

Jens Schade: Nun ja, einiges wird im Nachhinein rationalisiert. Wenn man sich ansieht, welche Modelle verkauft und wie sie beworben werden, wird schon deutlich, dass Automobilität nicht nur vernunftgetrieben ist. Gefühle wie „Das ist mein Reich“ und „Hier bin ich sicher“ sind eine wichtige Motivation. Das erklärt auch, warum Carsharing nur eine Nische besetzt. Bei diesem Modell hat man zwar die Mobilität, aber nicht die psychologischen Vorteile des Besitzes.

Und die Nachteile wie Stau, lange Parkplatzsuche und gestiegene Benzinkosten, fallen gar nicht ins Gewicht?
Jens Schade: Vieles preisen Autofahrer mit ein … und freuen sich dann eher, wenn man auf den Straßen ausnahmsweise gut durchkommt. Der finanzielle Aspekt wiegt dagegen schwerer. Der Bewegungsradius, der sich dank des Autos in den letzten Jahrzehnten ständig vergrößert hat, wird kleiner. Dann wird zum Beispiel am Wochenende ein Ausflugsziel in der näheren Umgebung angesteuert. Schon vor Corona war die Jugend weniger mobil als vorherige Generationen, auch weil Kontakte sich teilweise ins Digitale verschieben.
Die Menschen brauchen infrastrukturelle Angebote, damit sich ein Teil der weiten Wege erübrigt. Das ist ein besserer Ansatz, als etwas zu verbieten oder Menschen zu gängeln.

Ulrich Chiellino: Routinen und Gewohnheiten lassen sich nicht so schnell wenden. Wir sagen deshalb: Wir wollen eher einen Mobilitätswandel herbeiführen als eine -wende. Und wir sehen schon Änderungen. Wir haben deutlich mehr Radverkehr, inklusive acht Millionen E-Bikes, und auch das Deutschlandticket wird gut angenommen. Was man wenden muss, sind die Antriebsarten: den Elektromotor statt des Verbrenners für die Klimaverträglichkeit. Sind die heute täglich 1.000 Zulassungen von rein elektrischen Fahrzeugen viel oder wenig? Gemessen am politischen Ziel, bis 2030 15 Millionen E-Autos zu haben, ist es zu wenig. Aber wenn wir es mit 2019 vergleichen, als es 1.000 Zulassungen in einem Monat gab, ist es ein großer Fortschritt.

Was wären die wichtigsten Veränderungen an Infrastruktur von öffentlichem Nahverkehr und Radwegen, um Menschen vom Auto weg zu (ver-)führen?
Ulrich Chiellino: Für Radverkehr sind durchgängige Netze wichtig, also dass Fahrradstreifen nicht plötzlich enden. Im ländlichen Raum gilt es, den On-Demand-Verkehr zu stärken. Also kleinere Wagen, die relativ flexibel auf Bestellung fahren und mehrere Fahrgäste mitnehmen. Das wäre ein erheblicher Komfortgewinn gegenüber Bussen, die nur zweimal am Tag fahren. Mit autonomen Fahrzeugen eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten – noch ist das Zukunftsmusik.

Jens Schade: Was man sich allerdings klarmachen muss: Jedes Auto weniger erhöht die Attraktivität des Systems, weil der Verkehr dann wieder besser fließt. Außerdem wäre das fundamentale Problem zu lösen, wie viel mehr Menschen der öffentliche Nahverkehr aufnehmen kann und wie der Ausbau zu finanzieren ist. An vielen Stellen wird es schlicht nicht möglich sein, die Frequenz und Aufnahmefähigkeit der Verkehrsmittel zu erhöhen.

Dann bleibt ja nur, die Straße stärker zu teilen und Fahrrädern und Bussen mehr Platz einzuräumen. Solche Maßnahmen stoßen aber oft auf heftigen Widerstand. Haben Sie einen Tipp für die Politik, wie es besser geht?
Ulrich Chiellino: Am meisten Akzeptanz findet immer die Umgestaltung, die gut vorbereitet – am besten mit der Möglichkeit der Bürgerbeteiligung – und transparent evaluiert wird. Verkehr muss ein atmendes System sein, mit der Möglichkeit, dass eine Maßnahme, die nicht so viel bringt wie erhofft, auch wieder zurückgenommen wird. Die kommende Novelle der Straßenverkehrsordnung enthält eine erweiterte Experimentierklausel. Ich hoffe, dass Kommunen so ohne größeren administrativen Aufwand mehr wagen können.

Jens Schade: Die Trauer über Verluste ist größer als die Freude über einen Gewinn. Menschen, denen etwas weggenommen wird – eine Fahrspur oder Parkplätze –, melden sich daher viel stärker zu Wort als diejenigen, die dadurch im Bus schneller vorankommen oder sicherer auf dem Fahrradstreifen fahren. Die Verteilung des öffentlichen Raumes muss in einer Demokratie ausgehandelt werden. Dabei wird es auch Verlierer geben.

Wäre es auch eine Option, die Liebe der Deutschen zum Auto zu akzeptieren und den Verkehr intelligenter zu lenken?
Ulrich Chiellino: Der Werkzeugkasten ist begrenzt. Man kann zum Beispiel mit sogenannten Scannercars Autos identifizieren, die keine Berechtigung in Anwohnerpark-Zonen haben – aber dadurch entsteht nicht mehr Parkraum. Ampeln sollten intelligent geschaltet werden, aber es bleibt dabei: Wenn die einen Grün haben, müssen andere warten. Das Modell des Road Pricings, das ein Entgelt für die Straßennutzung vorsieht und bei dem stark befahrene Straßen am teuersten sind, sehen wir kritisch. Es ist sozial nicht ausgewogen und kann Verkehr auf Landstraßen verlagern, was zulasten der Sicherheit ginge.

Jens Schade: Ich fände es trotzdem gut, wenn wir es zumindest als Projekt einmal ausprobieren würden. Bei der Bahn und bei Flügen wird auch akzeptiert, dass man Dienstagvormittag weniger bezahlt als Freitagnachmittag.

Was ist Ihre Wunsch-Vorstellung für den Verkehr 2040?
Ulrich Chiellino: Klimaverträglich, bezahlbar und sicher.

Jens Schade: Dem kann ich mich anschließen. Und was mir noch wichtig ist: Der Weg ist das Ziel. Es ist ein Naturbedürfnis von Menschen, den Ort zu wechseln. Und das sollte überwiegend eine angenehme Erfahrung sein.

Unsere Experten:

Dr. Jens Schade, Psychologe
Er forscht seit über 20 Jahren an der Technischen Universität Dresden in nationalen und internationalen Projekten zu verhaltenswissenschaftlichen Fragen der Verkehrssicherheit und Verkehrsmittelwahl.

Ulrich Chiellino, Psychologe
Er war bei der Audi Accident Research Unit als leitender Psychologe für die Unfallursachenanalyse verantwortlich. Seit 2015 ist er der Leiter Verkehrspolitik beim ADAC e. V. in München. Außerdem ist er im Deutschen Verkehrssicherheitsrat aktiv.

74% der 16- bis 24-jährigen sagen: Das Auto ist in den kommenden fünf Jahren das Verkehrsmittel, das meine Anforderungen an Mobilität am besten erfüllt.¹
¹ Quelle: Huk-Coburg, Januar/Februar 2023