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Zeit, die verbindet

Eine Person in einem gelben Strickpullover gestikuliert mit den Händen, während eine andere Person in einem orangefarbenen Pullover und grauer Mütze aufmerksam zuhört, beide stehen im Freien vor einem Hintergrund aus Büschen und Bäumen

Anderen helfen, dabei seinen Horizont erweitern und Menschen kennenlernen. ¹⁾

Interview mit zwei 
Wirtschaftswissenschaft-
lerinnen

Die einen helfen Kindern bei den Hausaufgaben, die anderen machen nach Feierabend die Buchhaltung für den Sportverein und wieder andere begleiten Asylsuchende bei Behördengängen. Das Engagement in Deutschland ist groß und vielfältig. Wie lassen sich die Stärken dieser Helferkultur bewahren? Darüber diskutieren Stephanie Frost von der Freiwilligen-Plattform vostel.de und die Engagementsforscherin Dr. Julia Schlicht.

alverde: Frau Schlicht, wie kommen Menschen zu ihrem Ehrenamt? 

Julia Schlicht: Ein Teil der Menschen sucht sich eigeninitiativ ein Engagement, das sie interessiert. Viele werden aber auch direkt angesprochen, ob sie ein Amt übernehmen wollen – von Freunden, Bekannten oder beispielsweise anderen Eltern in der Kita. Beim Engagement von jungen Leuten spielt die Vorbildfunktion in der Familie eine große Rolle: Wenn sich Eltern ehrenamtlich engagieren oder sich auch um andere Familienangehörige kümmern, engagieren sich die Kinder häufiger. 

alverde: Frau Frost, was will vostel.de bei der Ehrenamtsvermittlung anders machen? 

Stephanie Frost: Als wir vor zehn Jahren gestartet sind, gab es noch keine Ehrenamtsbörse online, die junge Leute angesprochen hat und wie wir dabei auch auf Social Media setzt. Und Menschen mit internationalem Hintergrund wurden und werden in der Ansprache weitgehend vernachlässigt. Wir wollten diese Lücke füllen und sehen uns als Ergänzung zu Ehrenamtsbüros und -messen. Es sollte möglichst vielfältige Kanäle geben, sich über Engagementmöglichkeiten zu informieren. 

alverde: Ärmere und weniger gebildete Menschen sind seltener bürgerschaftlich engagiert als solche mit hohem Einkommen und hoher Bildung. Woran liegt das? 

Julia Schlicht: Im vierten Engagementsbericht der Bundesregierung sind die Schwellen, die ein Engagement behindern, sehr gut herausgearbeitet: Weniger privilegierte Menschen werden seltener gefragt und häufiger für ein Ehrenamt abgelehnt als Menschen aus der Mittelschicht. Auch der zeitliche und finanzielle Aufwand kann ein Hindernis sein, etwa wenn man sich Fahrkarten kaufen muss oder alle nach getaner Arbeit noch ins Café gehen. Und manchmal fühlen sich Menschen mit niedrigem Bildungsgrad oder schlechteren Deutschkenntnissen ausgeschlossen, weil sie einen bestimmten Sprach- und Umgangscode, den Akademiker pflegen, nicht perfekt beherrschen. Das läuft unterschwellig ab. 

Stephanie Frost: Bevor Menschen zu einem Verein Kontakt aufnehmen, informieren sie sich. Wenn ich als Frau auf der Homepage einen rein männlichen Vorstand sehe, fühle ich mich nicht angesprochen. Und das gilt auch für andere Gruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderung. Ich würde Vereinen empfehlen, eine Bestandsaufnahme zu machen: Wie sind unsere Strukturen und wie können wir sie gegebenenfalls aufbrechen? Es geht um Authentizität: „Wenn die Botschaft ist ‚Jeder ist willkommen‘, aber eigentlich will man lieber unter sich bleiben, dann wird das nicht funktionieren.“ 

„Ehrenamt ist keine Dienstleistung, sondern ein freiwilliges Wirken. Was der Staat machen kann, ist, gute Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.“ – Julia Schlicht

alverde: Oft heißt es, dass gerade jüngere Menschen sich flexibel und nur projektbezogen engagieren wollen. Wie reagieren Organisationen auf den Wunsch nach mehr Flexibilität? 

Stephanie Frost: Meine Erfahrung ist, dass einige Menschen zeitlich eingeschränkt sind, aber ich sehe keine Scheu vor Verbindlichkeit. Selbstverständlich wollen Neulinge erst mal die Leute und das Engagement kennenlernen und gucken, „passt das überhaupt zu mir?“ Wir raten sozialen Organisationen immer, niedrigschwellige punktuelle Mitmach-Möglichkeiten anzubieten. Die sind der Schlüssel, um Menschen zu gewinnen und ins langfristige Engagement zu bringen. Hinter dem Einsatz steht der Wunsch, etwas zu verändern. Und die Veränderung erlebe ich viel intensiver, wenn ich über Jahre dabei bin, als wenn ich irgendwo einmal zwei Stunden mithelfe. 

alverde: Welches Engagement wird zukünftig gebraucht – zum Beispiel mit Blick auf den demografischen Wandel? 

Julia Schlicht: Ich finde die Erwartung schwierig, dass es ein bestimmtes Engagement geben muss, weil der gesellschaftliche Bedarf da ist. Ehrenamt ist keine Dienstleistung, sondern ein freiwilliges Wirken. Was der Staat machen kann, ist, gute Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Menschen erkennen durchaus, wo Bedarf besteht. Viele Frauen kümmern sich ehrenamtlich um alte Menschen, oft in nicht organisierter Form wie Nachbarschaftshilfe. Aber es sollten nicht Ehrenamtliche einspringen, weil unser Pflegesystem nicht gut organisiert ist. 

alverde: Was sind die drei wichtigsten Maßnahmen, damit Freiwillige gern und lange bleiben? 

Stephanie Frost: Erstens: Authentisch bleiben. Versprechen, was man auch einhält – sonst sind die Leute schnell wieder weg. Zweitens: Die Ehrenamtlichen wirklich kennenlernen, verstehen, warum sie sich engagieren, und das auch bedienen – ob sie Gemeinschaft suchen oder die Welt verändern wollen. Und drittens: Den Sinn ihres Engagements sichtbar machen. Menschen wollen sehen, was sie mit ihrem Einsatz bewirken. 

Julia Schlicht: Wenn Menschen ihr Ehrenamt aufgeben, stecken dahinter oft zeitliche Gründe. Mehr Flexibilität könnte helfen, Ehrenamtliche zu halten. Wer kein Vorstandsamt mehr bekleiden will, hat möglicherweise trotzdem Zeit für projektbezogene Aufgaben.

„Wir raten sozialen Organisationen, niedrigschwellige, punktuelle Mitmach-Möglichkeiten anzubieten. Die sind der Schlüssel, um Menschen zu gewinnen und ins langfristige Engagement zu bringen.“ – Stephanie Frost

alverde: Ehrenamt ist per Definition unentgeltlich, dennoch gibt es Diskussionen über Vergünstigungen und Erleichterungen. Was halten Sie für sinnvoll? 

Julia Schlicht: Finanzielle Hürden müssen wir abbauen. Fahrtkosten sollten unbürokratisch erstattet werden. Die Ehrenamts- und Übungsleiterpauschale ist wichtig, ebenso Ehrenamtskarten, die Vergünstigungen ermöglichen – zum Beispiel fürs Freibad oder den Kulturbesuch. Das sind Formen der Wertschätzung, die zeigen: Dein Einsatz zählt. 

Stephanie Frost: Ich sehe im Corporate Volunteering noch Potenzial. Das bedeutet: Beschäftigte könnten wie beim Bildungsurlaub zwei Tage Ehrenamtsurlaub erhalten. Manche Unternehmen machen das schon freiwillig. Politische Unterstützung könnte es auch noch viel mehr Menschen ermöglichen, sich trotz Arbeitsbelastung einzubringen. 

alverde: Ein Dauerbrenner ist das Thema Bürokratie. Welche Hürden müssten aus Ihrer Sicht dringend fallen? 

Julia Schlicht: Ein Beispiel sind Satzungsänderungen. Heute sind schon für kleine Änderungen Notar- und Gerichtstermine nötig – das frisst Zeit und kostet Geld. Diesen Prozess könnte man vereinfachen. Auch Fördermittelanträge sind ein Thema: Kleine Summen zu erhalten sollte nicht mit riesigem Aufwand verbunden sein. Digitale Antragswege und Pauschalen wären eine echte Entlastung. 

alverde: Wenn Sie in einem Satz sagen sollten: Wie sieht Ehrenamt im Jahr 2050 aus? 

Stephanie Frost: „Jeder Mensch findet schnell ein Engagement, das zu ihm passt – und die Gesellschaft wächst dadurch enger zusammen.“ 

Julia Schlicht: „Noch bunter und vielfältiger. Ich bin zuversichtlich, dass Menschen sich auch zukünftig für andere einsetzen und ihre Umwelt mitgestalten wollen. Ich glaube, das steckt in uns allen drin.“ 

Unsere Expertinnen im Überblick

  1. Stephanie Frost, Wirtschaftswissenschaftlerin

    Sie gründete gemeinsam mit Hanna Lutz 2015 die Freiwilligen-Plattform vostel.de. Seitdem beschäftigt sie sich mit der Frage, wie ehrenamtliches Engagement zugänglicher und attraktiver gemacht werden kann. Aktuell liegt ihr Fokus auf der Entwicklung digitaler Prozesse und Produkte.

  2. Dr. Julia Schlicht, Wirtschaftswissenschaftlerin

    Sie kümmerte sich bei verschiedenen Hochschulen und Verbänden wissenschaftlich und fachlich um die Themenfelder Engagement und Freiwilligendienste. Seit 2021 ist sie bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt für den Bereich Forschung und Wissenstransfer zuständig.

Ende der Auflistung

Kurz gefragt Dr. Julia Schlicht 

Ihr Ehrenamtsmoment 2025? 
Ich bin ehrenamtliche Richterin am Strafgericht, jede Sitzung ist ein unglaublicher Einblick in menschliche Schicksale und unsere Rechtsprechung. 
 
Welches Klischee übers Ehrenamt nervt Sie? 
Dass junge Menschen sich nicht mehr oder nur noch ungebunden engagieren wollen. Die Daten sagen etwas anderes. 
 
Welches Land ist ein Vorbild für bürgerschaftliches Engagement? 
Neuseeland hat eine der höchsten Engagementquoten weltweit. 

Kurz gefragt Stephanie Frost 

Ihr erstes Ehrenamt? 
In meinem ersten offiziellen Ehrenamt war ich Mentorin für ein Mädchen aus Neukölln. Ich habe sie auf dem Weg zu ihrem Schulabschluss unterstützt. 

Welche Begegnung mit einem Ehrenamtlichen hat Sie zuletzt beeindruckt? 
Aktuell die vielen Ehrenamtlichen, die sich für demokratische Werte, für Vielfalt und gegen Rechtsextremismus engagieren und gerade im ländlichen Raum dafür nicht selten Bedrohungen ausgesetzt sind. 

Welche einzelne Vorschrift würden Sie sofort abschaffen? 
Die überbordenden Nachweis- und Belegpflichten bei kleinen Förderungen für Vereine, sodass mehr Zeit für das eigentliche Ehrenamt bleibt.