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Wie wichtig Wahlen sind

Ein roter Stift der ein Kreuzchen setzt

© plainpicture hasengold

Interview mit Experten Claudine Nierth und
Dr. Benjamin Höhne

Wahlen werden auch als „Fest der Demokratie“ bezeichnet. Doch nicht allen Bürgerinnen und Bürgern reicht es, alle paar Jahre Party zu machen. Die Politaktivistin Claudine Nierth und der Politologe Dr. Benjamin Höhne diskutieren, ob es neue Formen der Mitbestimmung braucht.

alverde: Volksentscheide gibt es in allen Bundesländern. Sollten sie auch bundesweit eingeführt werden? 

Claudine Nierth: Ich finde, ja, auch wenn ich weiß, dass dafür aktuell die politischen Mehrheiten fehlen. Wir sind das einzige Land in der EU, das noch nie eine nationale Abstimmung erlebt hat. Es gab inzwischen rund 9.000 Bürgerbegehren in den Kommunen. Von 714 Volksbegehren auf Landesebene mündeten 26 in Volksentscheide. Das heißt, bei den meisten Begehren hat man sich entweder im Vorfeld geeinigt oder nicht genügend Unterschriften zusammenbekommen oder das Anliegen war von der Verfassung nicht zugelassen. Es ist also ein Instrument, das den Parlamentarismus nur ergänzt. Besonders positiv finde ich, dass viele der Menschen, die Bürgerbegehren mit initiiert haben, sich danach weiter engagieren und in die Politik gehen. 

Nachdem es nach der Jahrtausendwende verschiedene Gesetzesinitiativen für die Einführung von Volksabstimmungen gab, sind die Fürsprecher in den letzten Jahren stiller geworden. Stattdessen stehen Bürgerräte hoch im Kurs. Wie erklären Sie sich diese Verschiebung? 

Dr. Benjamin Höhne: Das hat viel mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus und -extremismus zu tun. Populistische Parteien setzen sich typischerweise für direkte Demokratie ein, weil sie vermeintlich am besten wissen, was das Volk will. Sie misstrauen im Grunde allen vermittelnden Institutionen wie den Parteien oder freien Medien. In Viktor Orbáns Ungarn dient die direkte Demokratie als Mobilisierungsinstrument der Regierung. Auch sehe ich die Gefahr, dass Menschen bei Volksentscheiden politischen Rattenfängern folgen könnten. Ich möchte keine Abstimmungen über den Austritt aus der EU, die Wiedereinführung der Todesstrafe oder Migrationsfragen erleben. 

Claudine Nierth: Die Wiedereinführung der Todesstrafe verbietet das Grundgesetz, ob durchs Parlament oder einen Volksentscheid. Und das Brexit-Referendum in Großbritannien haben wir bei „Mehr Demokratie“ scharf kritisiert. Eine solche Abstimmung kann nicht innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden. Nötig ist ein mehrstufiges Verfahren, bei dem an einer Stelle auch das Parlament oder ein Bürgerrat mit ins Spiel kommen kann. Beim ersten Bürgerrat in Leipzig 2019 wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie Bürgerräte oder Volksentscheide favorisieren. Das Ergebnis: Wenn Volksentscheide, dann in Kombination mit Bürgerräten. Bürger erleben Volksentscheide durchaus als polarisierend und wollen sie nicht als alleiniges Instrument. 

Welche Themen eignen sich für einen Bürgerrat und welches Gewicht sollten seine Empfehlungen haben? 

Benjamin Höhne: Bürgerräte können sich prinzipiell mit allen Themen beschäftigen, aber immer vor dem parlamentarischen Prozess. Das Parlament muss weiterhin die Gesetze machen. Es ist auch die Institution, die mit den verschiedenen Ebenen des Gesetzgebungsprozesses umgehen kann und am Ende die Verantwortung trägt, wenn etwa Vorgaben aus Brüssel oder Verfassungsurteile aus Karlsruhe umzusetzen sind. Dies könnte ein Rat nicht leisten. Aber seine Empfehlungen sind trotzdem wirkmächtig und können im Ringen um die beste Lösung eine kompromissbewährte Dynamik entfalten. Politikerinnen haben dann für eine Initiative mehr politischen Rückhalt, als sie Umfragen und Expertengremien bieten können. 

Claudine Nierth: Ich halte nicht alle Themen für geeignet. Ein Bürgerrat braucht eine klare Fragestellung, ein überschaubares Thema und möglichst eines, bei dem das Alltagswissen der Menschen gefragt ist. Bürgerräte werden sich nur etablieren, wenn Abgeordnete sagen: „Ich habe hier was erfahren, was ich vorher nicht bedacht habe.“ Cem Özdemir hat das genutzt. Der Bürgerrat zur Ernährung hat mit seinem starken Fokus auf Tierwohl seine Tierwohlabgabe unterstützt. Momentan ist das Parlament in der Findungsphase für ein Thema eines weiteren Bürgerrats. Parteipolitische Interessen stehen sich oft im Weg. Bei einem Umweltthema sagt die Regierung: „Wir regieren, wir haben die Antwort.“ Nimmt man ein Thema der Opposition, wirft ihr die Regierung Wahlkampfprofilierung vor. 

Die zentralen Akteure in unserem demokratischen System sind die Parteien. Die Volksparteien verlieren Mitglieder, und in einigen Regionen finden manche Parteien nicht genug Kandidaten. Wie wird die (aktive) Mitgliedschaft in Parteien attraktiver?

Benjamin Höhne: Ich sehe drei Punkte, die Parteien konkret angehen können: Referenden in Parteien über Personalentscheidungen wie zuletzt die Vorsitzendenwahl bei der CDU. Eine Willkommenskultur zu leben, sodass neue Mitglieder mit ihren Ideen ernst genommen werden und ihnen beizeiten Verantwortung übertragen wird. Und die Öffnung nach außen: Parteien sollten nach dem Beispiel der USA Vorwahlen einführen. Die Bevölkerung, die einer Partei zugeneigt ist, könnte dann mitentscheiden, wer in einem Wahlkreis der nächste Bundestagskandidat wird. Das wäre gleichzeitig ein praktischer Test, wie eine Kandidatin bei den Menschen außerhalb der Partei ankommt. 

Frau Nierth, was hat Sie davon abgehalten sich in einer Partei zu engagieren? 

Claudine Nierth: Ich bin erfolgreicher außerhalb des Parlaments. Ein Abgeordneter eines Landtags hat mir einmal gesagt: „Ich war 30 Jahre im Parlament, sogar in der Regierung und muss feststellen, dass Sie mit ‚Mehr Demokratie‘ mehr erreicht haben als ich in meiner Parlamentsarbeit.“ Das hat mich erschreckt und gezeigt, dass es auch eine Unzufriedenheit unter Politikern gibt. Sie fühlen sich im System eingezwängt und je höher sie in der Hierarchie sind, desto weniger Gestaltungsspielraum haben sie. Für mich sind Parteien bis zur Wahl sehr wichtig. Im Parlament sollte es dann aber einfach nur Abgeordnete geben, die um die beste Lösung streiten, Kompromisse eingehen und nicht ständig im Wahlkampf-Modus agieren. 

Benjamin Höhne: Hinter der besten Lösung steckt womöglich ein Verständnis von Politik, das ich als antipluralistisch empfinde. In einer Demokratie gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wo das knappe Geld hingehen soll, um bestimmte Anliegen voranzubringen. Die Abgeordneten müssen Prioritäten setzen. Es gibt nicht das Allgemeinwohl, das man nur irgendwie finden muss, und dann wird alles gut. Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, was das Richtige ist und welcher Weg dahin führt. Um diese Ansichten zu vertreten, sind Parteien unverzichtbar, auch im Parlament. 

  1. Portrait von Claudine Nierth

    Claudine Nierth/Politaktivistin 

    Die bildende Künstlerin setzt sich seit den 80er-Jahren für Volksentscheide ein. Sie ist Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Mehr Demokratie e. V., der Beratung zu Bürgerbegehren und Bürgerräten anbietet (Erklärung zu Bürgerräten S. 73 in der Mai alverde-Ausgabe). 

  2. Portrait von Dr. Benjamin Höhne

    Dr. Benjamin Höhne/Politikwissenschaftler

    Seine Schwerpunkte sind Parteien und Populismus. Er lehrte unter anderem an der FU Berlin und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und ist als Sachverständiger für Parlamente tätig.