Europa ist nebenan

Die Europaflagge mit den zwölf goldenen, fünfzackigen Sternen ist ein Symbol der Europäischen Union. © gettyimages Jacques LOIC
Kolumne von Eckart von Hirschhausen zur Wahl
Liebe alverde-Lesende,
wenn Sie einmal die Augen zumachen und an Europa denken – wie fühlt sich das für Sie an?
Viele mögen an Brüssel denken, an Straßburg, weit weg, geografisch wie emotional. Für mich ist Europa nah, seit ich mit 17 Jahren mit dem Zug einen Monat lang quer durch unseren Kontinent fuhr, oft im Zug schlief, um Geld zu sparen und um in einem neuen Land aufzuwachen. Wieder ein Land mit Geschichte, Kultur, Sprache, anders und doch innerlich verbunden.
Meine beiden Eltern sind in Estland geboren und kamen durch den Zweiten Weltkrieg – Umsiedlung und Flucht – nach Deutschland. Ich habe also eine „internationale Biografie“, einen Migrationshintergrund, wie sehr viele, wenn man genauer schaut. Und ich freue mich, dass ich, seit ich denken kann, keinen Krieg auf deutschem Boden erlebt habe. Durch die Geschichten meiner Großeltern weiß ich: Das ist alles andere als selbstverständlich.
1945 war allen in Europa sehr klar: Nie wieder Krieg. Und nie wieder Faschismus. Und das finde ich auch für 2024 eine sehr gute Grundlage für unser Zusammenleben, was uns historisch die längste Friedenszeit und den größten Wohlstand durch Kooperation untereinander ermöglicht hat. Unsere Demokratie in Deutschland – als auch in Europa – ist von zwei Seiten akut gefährdet: von denen, die sie aktiv beschädigen und abschaffen wollen. Und all jenen, die sie für selbstverständlich halten. Europa ist nah, lebensnah. Wie gut die Luft ist, die wir atmen, wie intakt die Natur um uns bleiben kann und wie wir gemeinsam enkelfähig wirtschaften und leben, all das wird sowohl vor Ort in der Kommune – als auch in Berlin und der EU entschieden und ermöglicht.
Am 9. Juni ist Europawahl, nach Indien die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt. Je mehr Menschen eine Partei wählen, die konstruktiv mitarbeiten will an den Herausforderungen unserer Zeit, desto stärker wird unsere Demokratie. Für mich sind Parteien, die den menschengemachten Klimawandel leugnen, schlichtweg unwählbar. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Für mich sind Politiker nicht wählbar, die Kinder mit Behinderung in den Schulen als „Belastung“ für „unsere Kinder“ ansehen - so, als ob das nicht auch unsere Kinder wären. Und für mich ist niemand wählbar, der erkennbar die europäischen Institutionen, die wir mühsam aufgebaut haben, zerstören will.
Europa ist eine Erfolgsgeschichte, die weitergeschrieben werden muss. Wir könnten der erste Kontinent sein, der klimaneutral wird. Wir werden die Lebensgrundlagen, die die persönliche und die planetare Gesundheit von uns und allen, die noch kommen mögen, nur schützen, wenn wir alle Energie in die großen Hebel fließen lassen: den Green Deal, Energiewende und verbindliche Luftreinhaltung sowie die Renaturierung, die in ganz Europa Moore, alte Wälder und die Artenvielfalt schützt.
Das ist alles nicht perfekt, aber so viel besser als Kleingeist und Kleinstaaterei. Vor uns liegen, raue schwierige Gewässer und komplexe Herausforderungen. Wir sind mittendrin in einer historisch rasanten Veränderung, die wir jetzt noch mitgestalten können, oder sie überrollt uns. So unromantisch das klingt: Es wird nicht mehr wie früher. Auch wenn die von vorgestern das versprechen.
Was jetzt gebraucht wird: eine mutige Zivilgesellschaft. So wie wir sie in den letzten Wochen und Monaten überall in Deutschland erleben konnten. Sich schlau machen, den Mund aufmachen. Gerne in dieser Reihenfolge. Andere ansprechen, zuhören, über echte Sorgen reden, Gemeinsamkeiten und Lösungen finden. Und wählen gehen, alle zusammen. Die Generation, die noch Krieg und Nachkriegszeit erlebt hat, muss weitergeben, was historisch auf dem Spiel steht. Die Enkel müssen sagen, was für die Zukunft auf dem Spiel steht. An die 16-Jährigen meine Bitte: „Bring die Oma mit zur Urne“. Und an die 80-Jährigen: „Bring die Enkel mit zur Urne“. Und alle Menschen dazwischen sowieso. Damit Europa lebt. Keine Stimme verschenken. Jede ist kostbar.
2024 ist ein entscheidendes Jahr: für unsere Demokratie in Deutschland, in Europa und für alle, die gerne in Frieden als gesunde Menschen auf einer gesunden Erde zusammenleben wollen.
Ich bin dabei – ich hoffe, Sie auch.
Ihr
Eckart von Hirschhausen

