Das Fremdeln: Erste Gefühle besser verstehen

Vom „kleinen Sonnenschein” zum unfreundlichen Tyrannen? Kinder fremdeln nicht, um andere zu ärgern. © filadendron, iStock
Hat sich Dein Baby bisher allen freundlichen Menschen gegenüber offen, neugierig und lächelnd gezeigt und ist plötzlich Schluss mit dem vertrauensvollen Umgang? Dein Kind hat begonnen, zu fremdeln.
Anstatt ein Lächeln freundlich zu erwidern und sich von weniger vertrauten Menschen berühren zu lassen, bietet Dein Baby nun ein ganz anderes Bild: Es macht ein ernstes oder verdrießliches Gesicht, versteckt sich hinter Dir, möchte gar sofort auf den Arm oder beginnt zu weinen. Und manchmal reicht dafür schon ein Blick der „falschen” Person.
Im Alter zwischen 6 und 8 Monaten fangen die meisten Babys an zu fremdeln. Allerdings gibt es durchaus Babys, die bereits mit 3 Monaten oder 4 Monaten damit beginnen. Die Fremdelphase ist dabei verschieden stark ausgeprägt und ihre Dauer ist ebenfalls höchst individuell. Bei vielen Kindern verschwindet das Fremdeln im Laufe des 2. Lebensjahres; bei einigen reicht die Phase noch bis in das 4. Lebensjahr hinein. Typisch ist das relativ plötzliche Auftreten der Phase. So kann der Wechsel im Verhalten des kleinen Kindes buchstäblich von einem auf den anderen Tag erfolgen. Bei den meisten Kindern tritt dieser Wechsel im 8. Monat auf, deswegen bezeichnet man das Fremdeln häufig als die „Acht-Monats-Angst”.
Ursachen: Zwischen Fremdenfurcht und Trennungsangst
Die Ursachen des Fremdelns liegen in der Entwicklung des Babys. So unangenehm dieses Verhalten in manchen Situationen sein mag - es ist tatsächlich ein Beweis für einen grundlegenden Entwicklungsschritt, den das Baby vollzogen hat: Es kann nun besonders differenziert zwischen vertrauten und fremden Personen unterscheiden. Dabei spielt offensichtlich das Gesicht und die Gesichtswahrnehmung eine große Rolle. Hatte das Baby Dich bis dahin vor allem anhand Deiner Stimme und Deines Geruches identifiziert, konzentriert es sich nun mehr und mehr darauf, Dich am Gesicht zu erkennen. Je besser das Baby vertraute Gesichter erkennt, umso bedrohlicher wirken jedoch Gesichter, die unbekannt oder weniger vertraut sind.
Eine weitere Ursache des Fremdelns liegt in der Trennungsangst. Instinktiv haben kleine Menschenkinder vor nichts Angst - weder vor Schlangen oder dunklen Höhlen, noch vor Raubtieren oder fremden Menschen. Sie kennen zunächst nur eine Angst: Die, allein gelassen zu werden. Die Obhut, die Mutter, Vater und andere Bezugspersonen dem Kind schenken, reicht aus, damit dieses in Sicherheit und neugierig eine fremde Welt erkunden kann. Eine Trennung wird in diesem Sinne völlig zu Recht vom Baby als lebensbedrohlich empfunden. Denn wer könnte es dann vor all den Gefahren beschützen, vor denen es sein eigener Instinkt nicht warnt?
Trennungsangst und eine voll entwickelte Gesichtswahrnehmung führen also zum Fremdeln. Daher betrifft dieses Phänomen Babys und Kleinkinder aus allen Kulturen. Das Fremdeln sorgt aus evolutionsbiologischer Sicht dafür, dass Babys besser überleben: Aus eigenem Antrieb suchen sie so stets nach der Nähe zu vertrauten Personen und gehen Gefahren aus dem Weg, die etwa fremde Personen mit sich bringen könnten.

Immer nur die Mama? Einige Kinder reagieren zeitweilig sogar ängstlich auf Papa oder die Großeltern. © Briagin, iStock
Warum fremdelt manch ein Baby sogar bei Papa?
Da es sich beim Fremdeln um ein angeborenes, instinktgesteuertes Verhalten handelt, „überkommt” es das eine oder andere Baby mit aller Macht: Plötzlich können die Großeltern, ja sogar der eigene Vater in den Kreis der Personen mit einbezogen werden, die das Fremdeln auslösen. Selbst wenn das Baby längst weiß, dass es sich bei diesen Menschen um vertraute Personen handelt, lösen die Gesichter, die sich in der Wahrnehmung nun deutlich vom Gesicht der Mutter unterscheiden, Angst aus.
Einflussfaktoren: Temperament, Gewohnheiten und Verhalten der Eltern
Nicht alle Babys fremdeln in gleichem Maße. Bei einigen Kindern ist das Verhalten stark ausgeprägt und hält lange an, bei anderen fällt es hingegen kaum auf. Dabei habt Ihr als Eltern zunächst keinen Einfluss darauf: Das Temperament Eures Kindes entscheidet maßgeblich darüber, ob es stark oder weniger stark fremdelt, wann das Kind mit dem Fremdeln beginnt und wie lange die Fremdelphase andauert. Einfluss besitzt außerdem die momentane Befindlichkeit und Tagesform: Je besser es dem Baby geht, umso eher kann es sich der Herausforderung stellen!
Ihr als Eltern könnt ein Stück weit beeinflussen, wie sich das Verhalten Eures Kindes ausprägt und entwickelt. So ist nachgewiesen, dass Kinder, die es gewohnt sind, dass die Eltern häufig zu vielen Menschen Kontakt haben, weniger fremdeln. Sie haben sich schlicht besser daran gewöhnt und häufiger die Erfahrung gemacht, dass fremde bzw. weniger vertraute Menschen keine Gefahr darstellen.
Zudem beobachtet Euer Kind Eure Reaktionen als Elternteil genau: Reagiert Ihr zögerlich, unsicher oder sogar abwehrend auf andere Menschen, dann übernimmt Euer Kind diese Haltung und fremdelt stärker und länger.
Bist Du selbst ein sehr offener, kontaktfreudiger und freundlicher Mensch und Dein Baby oder Kleinkind fremdelt dennoch sehr stark, lasse Dich nicht entmutigen! Akzeptiere das Verhalten als Teil der Persönlichkeit Deines Kindes.
So unterstützst Du Dein Kind in der Fremdelphase
Du selbst, aber auch Deine Mitmenschen, können einiges tun, um dem Kind die schwierige Phase zu erleichtern.
Das Wichtigste für Euch als Eltern ist es, Euer Kind zu unterstützen und seinen Wunsch nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit zu erfüllen. Nehme also Dein Kind ruhig auf den Arm, wenn es sich das wünscht und gehe sogar ein wenig zurück, um zunächst den Abstand zur „fremden” Person zu vergrößern. Vermeide es, das Verhalten des Kindes herabzuwürdigen oder sich darüber lustig zu machen - auch wenn ein fremdelndes Kind angesichts der eigenen Oma manchmal Anlass dazu bietet. Nimm die Gefühle Deines Babys oder Kleinkindes ernst und beruhige und tröste es. Du wirst sehen: Vom Arm der Eltern aus trauen sich kleine Kinder oftmals, zaghaft Kontakt zu anderen aufzunehmen. Neben der Angst fühlt das Kind nämlich stets Neugier und Lust am sozialen Umgang und ist froh, wenn die positiven Gefühle überwiegen.
Oftmals fühlen sich Menschen, die vom Baby mit Ablehnung behandelt werden, vor den Kopf gestoßen oder sind gar tief betrübt. Erkläre das Verhalten Deines Kindes und werbe um Verständnis. Bitte um etwas Abstand, wenn sich jemand besonders schnell oder laut dem Baby nähert und damit Angst auslöst. Zwinge niemals Dein Kind dazu, sich jemandem zu nähern, dem es mit Angst begegnet. Gib Deinem Baby nicht in den Arm von jemanden, bei dem es fremdelt. Zeige Deinem Kind mit Deinem eigenen Verhalten, dass alles in Ordnung ist, indem Du entspannt und positiv auf die andere Person eingehst.
Eine vertraute Umgebung schwächt das Fremdeln übrigens ab: Solltest Du also Begegnungen mit anderen Menschen planen können, lade sie gerne zu Dir nach Hause ein. Die vertraute Umgebung und das Wissen, dass die Bezugsperson zu Hause immer in der Nähe ist, verstärkt das Gefühl von Sicherheit beim Kind - es fremdelt weniger und hört in der betreffenden Situation schneller damit auf.
Wie gehe ich als „Fremder” mit dem Fremdeln um?
Als diejenige Person, die vom Baby zeitweise nicht akzeptiert wird, kannst Du ebenfalls einiges tun, um das Fremdeln zu überwinden. Lenke die Aufmerksamkeit zunächst weg vom Baby und führe ein entspanntes Gespräch mit den Eltern. Mache ruhig eine Weile so, als wäre gar kein Kind anwesend und beobachte es nur heimlich. Wenn Du Dich dem Kind näherst, mache das möglichst ruhig und vorsichtig. Spreche nicht zu laut und versuche, nicht allzu laut zu lachen. Berühre das Kind nicht einfach und nimm es nicht auf den Arm. Nach einer kleinen Zeit der Gewöhnung kannst Du ruhig ein bisschen die Stimmung testen: Wie reagiert das Baby, wenn ich ein lustiges Gesicht mache oder freundlich lächle? Oder beteiligt es sich, wenn ich Begeisterung für ein Spielzeug zeige und wissen möchte, wie man damit spielt? Richtet sich die Aufmerksamkeit von Dir und dem Kind gleichzeitig auf etwas anderes - also etwa auf ein Spielzeug - dann ist das Eis meist schnell gebrochen.
Das Wichtigste ist jedoch, dass Du das Fremdeln nicht persönlich nimmst. Babys und Kleinkinder wollen mit ihrem abweisenden Verhalten niemanden gezielt ärgern und wären selbst nur allzu froh, wenn sie ihre Ängste ablegen könnten. Denke daran, dass das Kind einfach von Deinem Aussehen, Deinen Gesten und Deiner Mimik überfordert ist, weil es sie (noch) nicht einordnen kann.
Fremdelphase und Kitazeit
Die Fremdelphase erreicht häufig ausgerechnet dann ihren Höhepunkt, wenn Kinder in die Kita kommen oder bei einer Tagesmutter eingewöhnt werden sollen. Aus diesem Grund ist eine Eingewöhnungsphase von mehreren Wochen sehr hilfreich. Je stärker Dein Kind fremdelt, umso mehr kann sich diese in die Länge ziehen. Bitte gib Deinem Kind diese Zeit - auch wenn die Phase sehr nervenzehrend und emotional belastend sein kann. Versuche soweit auf Seine Betreuungseinrichtung einzuwirken, dass es in der Eingewöhnungszeit keinen Personalwechsel gibt.
Auf jeden Fall sind Kinder in der Lage, sich an mehrere Bezugspersonen zu gewöhnen. Ist jemand als Bezugsperson akzeptiert, hört das Fremdeln der Person gegenüber auf. Das Kind hat seinen „sicheren Hafen” gefunden und fühlt sich wohl - auch wenn die Fremdelphase noch gar nicht vorüber ist.
Warum fremdelt ein Kind nicht?
Es kommt tatsächlich vor, dass ein Kind nicht fremdelt. Dies kann an seinem Temperament liegen und sollte von den Eltern auf keinen Fall überbewertet werden. In dieser frühen Phase des Lebens ist es auch wenig sinnvoll, aus dem Verhalten sehr kleiner Kinder Rückschlüsse auf ihre psychische Verfassung zu ziehen.
Das völlige Fehlen des Fremdelns kann unter Umständen jedoch auf eine Störung im Bindungsverhalten zu den Bezugspersonen hinweisen. Denn das Fremdeln ist stets auch ein Beweis für die Bindung, die ein Baby oder Kleinkind zu seinen Bezugspersonen - typischerweise zu Vater und Mutter - geknüpft hat. Nur wenn sich ein Kind bei den Bezugspersonen sicher fühlt, nimmt es sie als Schutzinstanz wahr. Ein Baby teilt also die Welt zunächst in zwei Lager ein: In das (kleine) Lager der vertrauten und in das (große) Lager der fremden Menschen. Überraschenderweise kann ein Kind nicht fremdeln, wenn es keine sichere Bindung zur Bezugsperson aufgebaut hat. Aus der daraus resultierenden allgemeinen Unsicherheit sucht das Kind gewissermaßen sein „Heil in der Flucht”: Es kompensiert die fehlende Bindung mit dem Versuch, ständig neue Bindungen zu einzugehen. Das äußert sich oftmals in einem sehr distanzlosen Verhalten fremden Menschen gegenüber. Kinder, die nicht fremdeln, sind also keineswegs souveräner, mutiger oder offener als andere: Das genaue Gegenteil kann sogar der Fall sein.
Lasse Dich nicht verunsichern!
Für Eltern ist die Zeit des Fremdelns oft nicht einfach. Gerade freuten sie sich noch über ein freundliches Baby, das jedermanns Herz im Sturm eroberte, und im nächsten Moment müssen sie ein schlecht gelauntes oder weinendes Kind erleben, das seine Abneigung anderen gegenüber deutlich zum Ausdruck bringt.
Lasse Dich nicht entmutigen und gehe möglichst gelassen mit der Fremdelphase um - irgendwann ist sie überwunden. Werbe um Verständnis für das Verhalten Deines Kindes und lasse dir nicht einreden, Du selbst oder Deine Erziehungsmethoden wären schuld. Hilf Deinem Kind so gut Du kannst, aber überbehüte es auch nicht: Dann wird es gestärkt aus dieser Phase hervorgehen und zu einem gesellschaftsfähigen Menschen werden.
Dein glückskind-Team ♥