Erwachsene Frühgeborene: drei Lebensgeschichten
Extrem früh geborene Kinder hatten vor 30, 40 Jahren viel geringere Überlebenschancen als das heute der Fall ist. Die Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt. © gettyimages/cdwheatley
Winzig, viel zu früh und mit damals nicht allzu großen Überlebenschancen sind sie als Frühgeborene ins Leben gestartet: Natascha G. (31 Jahre), Juliëtte Kamphuis (41) und Dr. Benjamin Semburg (40). Wie geht es ihnen heute? Wie beeinflusst ihre frühe Geburt ihr Leben als Erwachsene? Was raten sie Eltern von Frühgeborenen? glückskind hat zum Welt-Frühgeborenen-Tag am 17. November bei den drei einstigen Frühchen nachgefragt, die im Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V. aktiv sind. dm kooperiert seit 2019 mit dem Bundesverband e. V. und hat im Lauf der Zusammenarbeit beispielsweise sein Sortiment um frühchenspezifische Produkte wie Bekleidung und Windeln in besonders kleinen Größen erweitert.
Die Erfahrung im Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V. zeigt: Vor allem anfangs sehr unreife Frühgeborene haben meist ein Leben lang auf ganz unterschiedliche Weise mit den Folgen ihrer Geburt zu tun. Das ist nach wie vor selbst unter Medizinern wenig bekannt. glückskind möchte zum Welt-Frühgeborenen-Tag am 17. November zu einem besseren Verständnis für erwachsene Frühgeborene beitragen.
Frühgeburt mit Langzeitfolgen
Wer als sehr kleines Frühchen auf die Welt kommt, muss oft monatelang um sein Leben kämpfen. Ist ein frühgeborenes Kind aus dem Gröbsten raus und hat in seiner Entwicklung zu Gleichaltrigen aufgeschlossen, wird seine Gesundheit spätestens mit dem Wechsel vom Kinder- zum Hausarzt für Erwachsene nicht mehr besonders überwacht. Die Frühgeburt gerät aus dem Blick. Entwicklungsdefizite haben sich schließlich inzwischen „verwachsen“ oder ausgeglichen, so die weitläufige Annahme. Das Lebenskapitel Frühgeburt wird geschlossen.
Doch ein Frühchen bleibt man sein Leben lang. Diese Erkenntnis setzt sich allmählich international durch. Seit 2019 gibt es in den Niederlanden die weltweit erste Klinik-Ambulanz für erwachsene Frühgeborene. Hierzulande soll zunächst eine Beobachtungsstudie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf UKE die Langzeitfolgen einer Frühgeburt untersuchen.
Kämpfte sich ins Berufsleben: Natascha G.
Natascha G., die nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden möchte, nimmt an der Studie des UKE in Hamburg teil. Sie erhofft sich davon, dass auch in Deutschland Ambulanzen für erwachsene Frühchen entstehen. Die 31-Jährige Düsseldorferin ist seit ein paar Jahren im Arbeitskreis „Erwachsene Frühgeborene“ im Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V. aktiv. „Das zeigt mir, dass ich nicht alleine bin und nicht die Einzige auf der Welt, die diese Schwierigkeiten hat. Die Gruppe gibt mir viel Rückhalt und Input.“ Natascha G. wurde in der 31. Woche als Zwillingskind per Notkaiserschnitt geboren. Sie erlitt einen Sauerstoffmangel und entwickelte aufgrund dessen eine Spastik. „Ich brauche immer ein bisschen länger, was die alltäglichen Dinge angeht. Bei der Arbeit brauche ich mehr Zeit, da mir zum Beispiel schnelles Schreiben am PC oder von Hand nicht gelingt.“
Wie geht es ihr heute? Eine Gehbehinderung und orthopädische Probleme machen das Leben beschwerlich. Zu viele Treppen und Wege, die es zu überwinden gilt. „Ich versuche das Beste aus meiner Situation zu machen.“ Die 31-Jährige arbeitet in Vollzeit im öffentlichen Dienst. Dafür musste sie sich von einer Förderschule, über ein Berufsbildungswerk und eine Berufsschule mit 29 Mitschülerinnen und Mitschülern zu ihrem Beruf regelrecht durchbeißen. „Vom Intellekt kann ich das, aber der Druck zu funktionieren, die Schnelligkeit, in der alles passieren muss, meine Gehbehinderung ... in unserer Leistungsgesellschaft haben Menschen wie ich Schwierigkeiten.“
Ein normaler Arbeitstag verlangt Natascha G. heute auch oft über die Maßen viel Kraft ab. „Es gibt Tage, da sind die kleinsten Arbeitsschritte zu viel, bei mir kommt es zu einer Art Wahrnehmungs-Überforderung. Die Kollegen können dies oft nicht verstehen – die Menschen im Arbeitskreis „Erwachsene Frühgeborene“ schon. „Ich weiß, wo meine Grenzen sind. Und wenn ich dann etwas geschafft habe, bin ich einfach nur glücklich.“
Während Natascha G. an körperlichen Einschränkungen leidet, ist ihre Zwillingsschwester geistig behindert. Mit ihr kann sie sich nicht austauschen. Mit ihren beiden auf unterschiedliche Weise in ihrer Entwicklung eingeschränkten Zwillingsmädchen war Natascha Gs. Mutter zunächst auf sich allein gestellt. Der Vater verließ die Familie, überfordert von der Situation. „Meine Mutter fand schließlich einen Partner, der mich und meine Schwester wie seine eigenen Kinder angenommen hat und sagte: ,Das kriegen wir hin‘.“ Ein Glücksfall für die Familie.
Was rät Natascha G. Frühchen-Eltern? „Sie sollen auf gar keinen Fall aufgeben. Egal, was passiert, sie sollen das Beste aus dem machen, was da kommen mag, und sich Unterstützung und Hilfe suchen. Als Eltern, insbesondere als Mutter, sollte man nie denken: Ich habe versagt; und sich womöglich die Schuld an der Frühgeburt geben.“ Die junge Frau empfiehlt Eltern von Frühgeborenen, entspannt in die Zukunft zu blicken und den Lebensweg der Kinder nicht durchzuplanen, sodass sie ihren eigenen, vielleicht weniger gradlinigen Weg finden können.
Das würde auch Juliëtte Kamphuis so unterschreiben. Doch dazu später ...
Ebenfalls eine bemerkenswerte Kämpferin ist Juliëtte Kamphuis. Die 41-jährige Niederländerin kam 1980 elfeinhalb Wochen zu früh auf die Welt. Ihr Leben hing am seidenen Faden, die Prognosen waren mehr als schlecht. Und doch: „Ich habe mich entgegen aller negativen Voraussagen gut entwickelt“, erzählt sie am Telefon von der niederländischen Klinik aus, in der sie arbeitet. Das ist eine kuriose Geschichte: Juliëtte Kamphuis hat alles daran gesetzt, in der Frühchen-Abteilung derselben Klinik in Utrecht zu arbeiten, in der sie vor 41 Jahren als Frühgeborenes selbst behandelt und gerettet worden war.
In einem kleinen, regionalen Krankenhaus an der deutschen Grenze geboren, konnte man dem Frühchen Juliëtte nicht helfen. Sie wird nach hektischer Suche, welche Klinik sie aufnehmen und fachgerecht behandelt könnte, in das 130 Kilometer entfernte akademische Krankenhaus verlegt – der Vater mit im Krankenwagen, darauf vorbereitet, dass das Kind auf dem Transport sterben könnte. Die Mutter bleibt im Regionalkrankenhaus zurück, ohne dass sie ihr Baby im Arm halten durfte. Dies nachzuholen, ist ihr über drei Monate später zum ersten Mal vergönnt.
Juliëtte überlebt den Transport. Ihre Lunge ist jedoch nicht ausgereift genug, um selbstständig atmen zu können. Sie wird mit einer extrem hohen Sauerstoffdosis unter massivem Druck invasiv beatmet. „Heute weiß man, dass das sehr toxisch ist und macht es nicht mehr so“, sagt sie. „Die Beatmung hat mir das Leben gerettet, aber sie hat auch meine Lunge geschädigt.“ Doch dies sollte erst viel später zum Tragen kommen.
Mit etwa fünf Jahren erklärt der Kinderarzt, Juliëtte sei nun auf demselben Entwicklungsstand wie nicht frühgeborene Gleichaltrige. Sie wird daher nicht weiter medizinisch überwacht. Das Mädchen entwickelt sich gut, treibt viel Sport. Und tatsächlich gehen alle, auch sie selbst, davon aus, dass sie nun endgültig über dem Berg wäre. Umso schlimmer war es, als sie mit 25 Jahren schwer an der Lunge erkrankte.
Die Diagnose BPD (Bronchopulmonale Dysplasie) betrifft extreme Frühchen, die invasiv beatmet wurden. „Der Zusammenhang zwischen einer Frühgeburt und BPD wird von Lungenfachärzten aber leider oft nicht mehr hergestellt, wenn Lungenbeschwerden im jungen Erwachsenenalter auftreten“, weiß Juliëtte Kamphuis. So bekam sie die richtige Diagnose, BPD, erst im Alter von 40 Jahren und lebte bis dahin im Glauben, sie habe Asthma – eine Erkrankung, die ganz andere, bei BPD wenig hilfreiche Medikamente, erfordert. „Wäre ich als Frühchen nicht nur bis zum Alter von fünf Jahren medizinisch begleitet worden, hätte ich die richtige Diagnose, BPD, früher bekommen und möglicherweise eher Zugang zur richtigen Behandlung gehabt“, meint sie.
Rückblickend kann sie ihrer Erkrankung Positives abgewinnen: „Weil ich krank wurde, mache ich diese Arbeit. Das war mein Antrieb. Und ich liebe meinen Job. Ich trage dazu bei, das Leben für Frühchen besser zu machen.“ Juliëtte hatte einen Bachelor-Abschluss in Biochemie und Biotechnologie, war also weder Ärztin, noch Krankenschwester, um im Krankenhaus arbeiten zu können. In der klinischen Forschung hatte sie schon gearbeitet, nicht aber im Bereich Frühgeborene.
Neben ihrer Arbeit engagiert sie sich seit 2009 auf nationaler und internationaler Ebene, um für das Thema Lungenerkrankungen und Frühgeburten zu sensibilisieren. Juliëtte Kamphuis ist unter anderem an vielen Aktivitäten der European Foundation for the Care of Newborn Infants (EFCNI) mit Sitz in München beteiligt. Sie sammelte so Erfahrung in diesem Bereich und gibt Frühgeborenen weltweit eine Stimme. Inzwischen hat sie ihren Traumjob ergattert und ist klinische Forschungsbeauftragte in der Abteilung für Neonatologie in der Wilhelmina Kinderklinik am Universitätsklinikum Utrecht.
Juliëtte Kamphuis ist mit 1,66 cm noch heute kleiner als alle anderen in ihrer Familie. „Sehr früh Geborene bleiben oft auch als Erwachsene acht bis neun Zentimeter unter der Größe, die sie rein rechnerisch erreichen könnten“, weiß sie. Wie viele Frühchen ist die 41-Jährige stark kurzsichtig.
„Wenn ich Fotos betrachte, wie ich als winziges Baby im Brutkasten liege, denke ich, dass ich mich wirklich glücklich schätzen kann, dass ich am Leben bin. Das war nicht zu erwarten und erfüllt mich mit Freude und Glücksgefühlen. Ich bin hier und ein sehr glücklicher Mensch.“
Was rät sie Eltern von Frühgeborenen? „Ein frühgeborenes Kind zu haben, ist nicht leicht. Ich verstehe vollkommen, warum manche Frühchen-Eltern überfürsorglich sind. Aber es hilft den Kindern letztlich nicht“, sagt Juliëtte Kamphuis. „Was wir in der klinischen Forschung sehen, ist, dass Frühgeborene ein höheres Risiko für bestimmte Erkrankungen haben. Das heißt aber nicht, dass sie diese Krankheiten auch bekommen“, betont die 41-Jährige.
„Angst vor der Zukunft zu haben, hält Eltern nur davon ab, jeden Moment zu feiern, den sie mit ihrem Kind haben.“ Eltern möchte sie auch den Tipp geben, von Tag zu Tag zu leben und die Kinder entscheiden zu lassen, was sie aus ihrem Leben machen wollen, sie anzuleiten, aber nicht für sie zu entscheiden.
Ein Frühgeborener greift zu den Sternen: Dr. Benjamin Semburg
Hat sein Talent als Redner entdeckt: Dr. Benjamin Semburg. © Dr. Semburg/privat
Die sehr enge Bindung zu seinen Eltern, die er mit seinem extremen Start ins Leben begründet, schätzt Dr. Benjamin Semburg ganz besonders. „Ich habe ein übermäßiges Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit behalten, was mein Leben bis heute begleitet“, sagt der promovierte Astrophysiker.
1981 wurde Benjamin Semburg in der 28. Schwangerschaftswoche mit nur 920 Gramm Körpergewicht und einer Größe von 32 cm geboren. Seine Überlebenschancen damals: nahe Null. „Die Medizin hat sich in den vergangenen 40 Jahren deutlich weiterentwickelt. Frühchen mit meinem Startgewicht überleben heute mit einer sehr, sehr hohen Wahrscheinlichkeit“, weiß Benjamin Semburg. Wie die allermeisten anderen Frühgeborenen seinerzeit verbrachte er viele Wochen ganz allein im Brutkasten. „Känguruhen“ war unbekannt, Körperkontakt ein Infektionsrisiko.
Inzwischen hat Benjamin Semburg aufgeholt, wiegt mehr als das Hundertfache mehr und misst 193 cm. „Ich war körperlich schnell sehr groß. Das hatte zur Folge, dass man mir mehr zugemutet hat oder dachte, der ist ja groß, der kann ja alles. Dem war aber nicht so.“ Ein Mann wie ein Baum, und doch sagt er von sich: „Ich bin deutlich schmerzempfindlicher als andere Erwachsene, vermutlich durch die sehr frühe Überforderung des Nervensystems.“ Ansonsten sieht sich Benjamin Semburg quasi als „privilegiert“, denn er ist ohne die bei Frühchen häufig auftretenden Lungen-, Augenerkrankungen, Gehirnschädigungen und Erkrankungen des Verdauungstraktes aufgewachsen.
Der passionierte Naturwissenschaftler hat trotz – oder vielleicht gerade wegen – des schwierigen Starts in die Welt geschafft, seine Träume zu verwirklichen. Benjamin Semburg war an einem Großexperiment zur Weltraumforschung am Südpol beteiligt.
Fast kommt es ihm vor, als sei das Weltall besser erforscht als die Folgen einer Frühgeburt. „Weil das Weltall wegen der Faszination der Menschen für die Unendlichkeit deutlich besser in der Öffentlichkeit ankommt, als wenn man erzählt: Wir haben hier eine spezielle Gruppe von Menschen, die eine gesonderte Behandlung oder Unterstützung brauchen.“ Benjamin Semburg will daran etwas ändern und hat dabei eine Leidenschaft entdeckt: auf der Bühne zu sprechen und andere zu faszinieren. Für den Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V. tritt er als Redner auf und spricht über seine Frühgeburt und wie es ihm dennoch gelang, nach den Sternen zu greifen.
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