Zu Besuch bei einer Familie mit einem Frühgeborenen
Wenn ein Baby viel zu früh auf die Welt kommt, sind nicht nur die ersten Tage und Wochen ein Ausnahmezustand. Die Folgen einer Frühgeburt beeinträchtigen Kinder noch später. Doch wie so oft bei besonderen Kindern – sie haben genau die Eltern, die diese Herausforderung gelassen annehmen.
Kaum größer als sein heutiges Kuscheltier war Jonte bei seiner Geburt. © Julia Knop
Eigentlich ist Zeit für den Mittagsschlaf, aber Jonte ist noch putzmunter. © Julia Knop
Dass Babys nach der Geburt keine rosigen Wonneproppen sind, darauf sind Eltern eingestellt. Als Nina Huster ihren Sohn das erste Mal sah, musste sie aber doch schwer schlucken – wie ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges sah er aus: Die Haut spannte sich pergamentpapierdünn über den winzigen, unfertigen Körper. Die Augen waren von einer Schutzbrille bedeckt, um kein Licht an die Netzhaut zu lassen, Schläuche führten in die Nase und an die Ärmchen, und Alufolie sollte den Rumpf warmhalten. 305 Gramm wog Jonte, als er aus dem Bauch seiner Mutter geholt wurde – etwas mehr als ein Stück Butter.
„Ich habe immer geglaubt, dass es einen Sinn hat, dass Jonte auf die Welt gekommen ist.“ Nina Huster Mutter
Nina Huster hatte noch nicht einmal einen richtigen Babybauch, als sie in der 21. Schwangerschaftswoche in die Uniklinik Lübeck kam: Der Fötus war viel zu klein, wurde schlecht über die Plazenta versorgt; sie selbst hatte einen ausgeprägten Schwangerschaftsdiabetes und Nierenprobleme, die sie noch aus der Zeit vor der Schwangerschaft mitbrachte. Es war klar, dass das Baby unreif zur Welt kommen würde. „Die 26. Woche war die Zielmarke der Ärzte“, sagt Nina Huster. „Immer wieder habe ich meinen Bauch gestreichelt und Jonte gesagt, dass wir beide noch ein bisschen durchhalten müssen.“
Doch dann bekam Nina Huster rasendes Kopfweh und Schmerzen im Oberbauch: Eine Präeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung) mit HELLP-Syndrom (eine schwerwiegende Variante der Präeklampsie) diagnostizierten die Ärzte. „Es ging um Leben und Tod – für beide“, sagt Ehemann Rüdiger Huster. Am 13. Februar 2017, dem ersten Tag der 24. Schwangerschaftswoche, schoben die Ärzte Nina Huster in den Operationssaal und eilten nach einer halben Stunde mit Jonte auf die Intensivstation der Neonatologie. Die Fruchtblase und die Plazenta entfernten die Ärzte erst, als das Baby im Inkubator (umgangssprachlich: Brutkasten) lag. Während Eltern sonst nach der Geburt und in der Zeit des Wochenbetts ausgiebig mit ihrem Kind kuscheln, durften Nina und Rüdiger ihren Jonte die ersten vierzehn Tage nur durch die Scheiben des Inkubators sehen. Und manchmal nicht einmal das, wenn die Ärzte ihn dringend behandeln mussten, weil er beispielsweise zu wenig Sauerstoff bekam. Die vollkommen unausgereifte Lunge war das größte Problem des Winzlings. „Als ich schwanger wurde, war ich schon 38“, erzählt Nina Huster. „Ich habe immer geglaubt, dass es einen Sinn hat, dass Jonte auf die Welt gekommen ist. Daran habe ich mich festgehalten, auch als die Ärzte uns darauf vorbereitet haben, dass Jonte sterben kann oder schwere Schäden behält.“
„Ich war so plötzlich Vater geworden, und Jonte war so zerbrechlich.“ Rüdiger Huster Vater
Zwei Wochen auf der Welt, war Jonte noch nicht aus der Gefahrenzone, aber so stabil, dass die Schwestern ihn seiner Mutter zum ersten Mal auf die Brust legen konnten, zum sogenannten Kangarooing (abgeleitet von den Kängurus, die ihre unreif geborenen Jungen monatelang im Beutel tragen). Der Hautkontakt zwischen Mutter und Kind stärkt nicht nur die Bindung, sondern verbessert auch die körperliche Entwicklung des Kindes. Jonte sooft wie möglich nahe zu sein war für Nina Huster jetzt das Wichtigste. Deshalb zog sie ins Ronald-McDonald-Haus auf dem Krankenhausgelände. Die Einrichtung, in der Familienangehörige von schwer kranken Kindern wohnen, wurde für sie zu einem „zweiten Zuhause“. Nina Huster schwärmt von der Gemeinschaft der Eltern, der Herzlichkeit der Leiterin und der optimistischen Stimmung.
Papa Rüdiger blieb allein zu Hause. „Es war richtig, dass Nina in Laufweite zu Jonte lebte“, sagt er. Und gibt gleichzeitig zu: Natürlich fühlte er sich außen vor. „Ich war so plötzlich Vater geworden, und Jonte war so zerbrechlich. Es dauerte Wochen, bis ich mir das Kangarooing zutraute.“ Eine Bindung aufzubauen haben Vater und Sohn längst nachgeholt: Während des Interviews kann Rüdiger kaum den Blick von Jonte wenden: Scherzt mit ihm und knuddelt den 17 Monate alten Knirps auf dem Sofa. Es war Glück im Unglück, dass der Groß- und Außenhandelskaufmann just seine Stelle verlor, als Nina und Jonte nach fünf Monaten im Krankenhaus nach Hause kamen. Ihr Frühchen war für beide Eltern ein Vollzeitjob. Zu allem, was Eltern mit einem Säugling üblicherweise auf Trab hält, kam: das Beatmungsgerät überwachen, Medikamente in die Milch rühren, ihn alle zwei Stunden mit winzigen Mahlzeiten füttern und ihn immer wieder zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen. Da ist es schon eine Erleichterung, dass die Physiotherapeutin und die Therapeutin für die Frühförderung, die sich um Jontes kognitive Entwicklung kümmern, in die Wohnung kommen.
Auch wenn Jontes Gehirn nicht geschädigt ist, könnte er lange brauchen, bis er laufen kann, und sein Gang wird vielleicht unsicher sein – neurologische Probleme sind bei sehr unreifen Frühchen häufig. Das geschädigte Lungengewebe kann ihn beim Toben leichter außer Atem kommen lassen, das wissen die Eltern. Eine Augenoperation konnte verhindern, dass sich die Netzhaut ablöste und Jonte erblinden lässt. Aber die Ärzte haben eine starke Kurzsichtigkeit bei ihm festgestellt. Trotz allem sind Nina und Rüdiger Huster unverdrossen optimistisch, dass Jonte seinen Weg machen wird. „Ein Frühchen ist immer für eine Überraschung gut“, sagt Nina Huster. „Wir freuen uns über jeden kleinen Entwicklungsschritt.“
Web-Tipp
Hilfe für Betroffene leistet „Das frühgeborene Kind e.V.“
3 Fragen an Dr. Friedrich Porz
Neonatologe, ehemals Oberarzt der Kinderklinik Augsburg
Wann ist ein zu früh geborenes Baby überlebensfähig?
Die vollendete 23. Schwangerschaftswoche scheint eine Art Schallmauer zu sein. Davor sind viele Organe, insbesondere die Lungen, so unausgereift, dass nur die Hälfte der Frühchen überlebt und davon viele gesundheitliche und psychische Probleme haben. Aber insgesamt hat die Neonatologie Riesenfortschritte gemacht. In den 80er-Jahren galt alles unter 32 Wochen als kritisch. Heute überlebt ein Großteil der kleinsten Frühgeborenen sogar zwischen der 23. und 28. vollendeten Woche.
Welches sind die häufigsten Beeinträchtigungen dieser sehr kleinen Frühgeborenen?
Was sich auf das Leben der Frühchen oft am stärksten auswirkt, ist die Hirnentwicklung: Das Gehirn reift im Mutterleib deutlich besser als außerhalb. Wir haben viele Kernspintomografien von gleichaltrigen Babys durchgeführt – und im Vergleich war das Hirnvolumen der sehr unreif geborenen Babys signifikant kleiner. Schwere geistige Behinderungen sind zwar selten, aber sehr viele frühgeborene Kinder bekommen später Schulprobleme, auch wenn die geistige Entwicklung davor scheinbar normal verlief: Sie haben sogenannte Teilleistungsschwächen wie ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder eine Rechenschwäche. Körperliche Beeinträchtigungen wie etwa eine verminderte Lungenfunktion stecken dagegen viele Frühchen gut weg.
Gibt es Medikamente oder andere Therapien, die die Hirnreifung der Frühgeborenen unterstützen können?
Medikamente gibt es nicht, aber Muttermilch wirkt ähnlich wie eine Arznei – sie ist für frühgeborene Kinder noch wichtiger als für reif geborene Kinder. Auch psychosoziale Faktoren haben einen großen Einfluss auf die Hirnentwicklung: In Skandinavien sind Eltern fast immer in einem Zimmer mit ihrem Frühchen untergebracht. Davon sind viele deutsche Kliniken noch weit entfernt. Ganz wichtig ist auch die Unterstützung der Eltern und Förderung der Frühchen in den ersten Lebensjahren.
Dein glückskind-Team ♥